Viele Traditionen sind lieb gewonnene Fixpunkte, deren überhaupt dazu gewordener Umstand als Segen der Geschichte aufgefasst werden darf. So auf jeden Fall Bachs Johannes- und Matthäus-Passion, denen allerdings gleichzeitig der „Fluch“ gegenübersteht, andere Passionsoratorien bei einem seitlichen Blick ins kompositorische Umland von einer Alternativetablierung im Konzert abzuschirmen. Das gilt ja schon – zugegebenermaßen wegen der vorhandenen Datenlagen – für Bachs Markus-Passion, die letzten Monat Michael Alexander Willens' Kölner Akademie nach Jahren wieder aufführen konnte. Sie waren es, die jetzt nach über sieben Jahren zudem ihre Weltersteinspielung von Johann Heinrich Rolles Matthäus-Passion auf einer Mini-Tour in den niederländischen Stadt- und gerade sehr prominenten Bach-Matthäus-Passions-Zentren live vorstellen durften. So auch im Amsterdamer Muziekgebouw.
Jenes Komponisten, der nach eventueller Zugehörigkeit zu Bachs Leipziger Collegium musicum in Magdeburg ansässig wurde und seinen generationsvorgänglichen Held Telemann, dessen sechsundvierzig und hälftig erhaltenen Passionen nach den Evangelien fast selbiges Schicksal beschieden ist, über den grünen Klee lobte. Ein Unterschied von einer Stimme im Rat verhinderte, dass Rolle gar Telemanns Nachfolger auf dem Musikdirektorposten in Hamburg wurde, den dafür der vom Patenonkel protegierte Carl Philipp Emanuel Bach erhielt. Von Vater-Bach-Freund Telemann und Bachsohn hat Rolle, der seinerseits nach seinem Tod durchaus überschwänglich gewürdigt werden sollte, zum Beispiel den empfindsamen Geschmack seiner Zeit aufgenommen, der die Karfreitagsmusik von 1748 neben dramatischer, stilistisch-operaler Unerlässlichkeit zu einem besonders auf die Erlösung zielendes Verheißungsmanifest der auferstehungs- und wohlgläubigen Jesus- und Gottesliebe formt.
Sie brachte die Kölner Akademie in aller Deutlichkeit hervor, nicht allein durch bekanntermaßen achtköpfige Chorformation und hervorragendste Balance, die stets den Text und das Vokale in den Vordergrund stellt. Auch mittels expressiver, die Stärken des Ensembles in Dynamik und bei Ariosi und Arien offensichtlicher sinfoniasatz-ausspielender Betrachtung, die zudem an Willens' Wirken ablesbar war und die Aufführung in meinem Konzert-Palmarès mit ihm mit Abstand zur bisher besten werden ließ. Dazu bei trugen ein weicher, rhythmischer, fließender, attacca-geprägter Ansatz und Rahmen, in denen Choräle und rollenwechselnde Turbachöre ihr mildes, reflexions- und respektlastiges, ehrendes, eindringlich wünschenswertes, schockierendes, einfach konstant aufgehobenes Zuhause fanden. Exemplarisch all Genanntes bietend sei der hilfsunterlassene, abschätzige Geschieht-Dir-recht-Chor des vorübergehenden Volkes „Der du den Tempel Gottes zerbrichst“ herausgegriffen, den ich in seiner dramatischen Schlankheit allzu gerne auch im Konzert auf Dauerschleife legte.
Teil der Chöre waren somit in üblicher Besetzung ebenfalls die in den Figuren von Jesus, Hohepriester, Pilatus, Judas, Magd, Petrus, Zeugen, Sünder sowie den Seelen-Allegorien von Sulamit, Liebe und Andacht in Erscheinung tretenden Solisten. Darunter verkörperte Thomas Bonni Jesus ganz menschlich durch sonore, lyrische, legatogeschwängerte Tiefenpräsenz, die im Beginn ohne Turba quasi deren perspektivschwenkenden, zusammenfassenden Ersatz bildete: sprich gegenüber den Jüngern strahlte er als natürliche Vertrauensperson bändige Gelassenheit und Mahnung aus, während er im Gespräch mit dem Herrn emotionale Größe und Zweifel im Erlösungsgebet zeigte. Schnörkellos, souverän und klar brachte sich der helle Tenor von Joachim Streckfuß als Petrus und Zeuge ein, ebenso Zeuge-Kollegin Elvira Bill, der ich in den Ausdrücken der allegorischen oder solovolklichen Stimme mit ihrer betörenden Farbigkeit, runden Strahlkraft sowie wohltemperierten, organischen Galanz und Flexibilität immer weiter hätte zuhören wollen. Auch Anna Herbst (Judas/Magd/Sulamit), die mich durch den Text lebendig gemachte, grandios abbildende Artikulation, leicht wirkende, vibratofreie Höchstregistertechnik und äußerste Kontrolle von Diktion, besonders neben Konsonant- durch Vokalschärfe, verzückte. Raimonds Spogis erfüllte die Partie von aufgebrachtem, nachher reumütigerem Hohepriester sehr theatralisch gewandt und beherzt verständlich, die des Pilatus dagegen etwas ruhiger als richtender Staatsmann.
Markus Schäfer hat nichts an höhetragender, dramatischer Expertise als Evangelist verloren. Mit beredtem, betontem Ausdruck und rhetorisch akkuratem Herzblut und ebensolcher Erfahrung außerdem in den linien- und verzierungskundig gemeisterten Tenorarien erzeugte er ständigen, aufmerksamkeitsgewinnenden Hörzwang im schöpferischen Sinne. Kurz vor dem Konzert erschien übrigens die von der Kölner Akademie nun aufgenommene Lukas-Passion Rolles. Sie ahnen es, ich bin schon und erst recht darauf gespannt, sie live zu vernehmen. Sie auch?