Während einige Opernhäuser die Neuinszenierungen und Premieren ihrer Ring-Zyklen, pandemiegeplagt und stets mit bedrohlich bevorstehenden Lockdowns, absagen oder verschieben mussten – beispielsweise der nach dem Vorabend abgebrochene und später konzertant aufgeführte Ring in Paris, der auch über ein Jahr nach seiner geplanten Fertigstellung immer noch nicht vollständig gezeigt wurde, oder der Herheim-Ring an der benachbarten Deutschen Oper Berlin, der zwar komplett gezeigt, aber planungsbedingt in veränderter Reihenfolge auf die Bühne gebracht werden musste – scheint der Berliner Staatsopern-Ring von Dmitri Tcherniakov, über allen erhaben, jegliche coronainduzierte Hindernisse überwunden zu haben. Bis auf eines: Daniel Barenboim, der sich das Dirigat des neuen Rings zu seinem 80. Geburtstag eigentlich nicht nehmen lassen wollte, musste den Taktstock nun aufgrund gesundheitlicher Probleme abgeben. Für zumindest zwei der drei angesetzten Zyklen konnte mit Christian Thielemann ein ebenbürtiger Ersatz gefunden werden, der die illustre Besetzung hochkarätig anführen kann. Für Thielemann, der vor bereits 30 Jahren Wagner an der Deutschen Oper Berlin dirigierte und dort als damaliger neuer GMD seinen ersten Ring des Nibelungen leitete, schließt sich somit ganz symbolträchtig der Kreis.

Das Rheingold
© Monika Rittershaus

Der Projektor in dem halbrunden, an ein anatomisches Theater erinnernden Hörsaal, zeigt die Blaupause für das megalomanische Walhall. Ebenso ambitioniert ist auch das von Tcherniakov gestaltete Bühnenbild: zahllose Etagen und sich immer neu offenbarende Räume, die Einblick in diese Ring-Welt geben. Wir befinden uns im Forschungszentrum E.S.C.H.E. – ein Akronym, bei dem wohl eines der „E“s für „Experiment“ steht, dessen sich Alberich als für die Faszination des Goldes korrumpierbarer Mensch unterwerfen muss. Angeschlossen und verkabelt muss er sich beobachtet von zahlreichen Ärzt*innen einem Experiment unterziehen, bei dem er nicht nur erotisch, sondern auch vom Reichtum und Macht des Rheingoldes in Versuchung geführt wird. Das geht jedoch gehörig schief und so befreit er sich in Rage und macht sich nach der Verwüstung des Labors mit dem Schatz, ein paar Kabeln und Leiterplatten unterm Arm aus dem Staub.

Michael Volle (Wotan)
© Monika Rittershaus

Das 19. Jahrhundert als Wiege unzähliger wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Errungenschaften, aber auch das ebenso aufkeimende Interesse an Psychologie, Spiritismus als Nährboden für Scharlatanerie und Irrlehren, bilden Inspiration für diesen Ausgangspunkt; sowie die bereits im 19. Jahrhundert vorgenommenen Untersuchungen der psychologischen Profile und Geschichten von Verbrechern, um herauszufinden, was einen Menschen zum (potenziellen) Täter werden lässt. Die Ursachen geistiger und moralischer Abweichungen wurden von Karl Philipp Moritz in seiner Experimental-Seelenlehre untersucht, um festzustellen, ob diesen Abweichungen Ursachen zu Grunde liegen oder sie gar in der Natur eines Menschen liegen können. In diesem Fall ist Alberich der Leidtragende.

Johannes Martin Kränzle (Alberich)
© Monika Rittershaus

Ästhetisch sieht Tcherniakovs Inszenierung jedoch allzu sehr danach aus, wenn ein russischer Regisseur in einem (ehemals) ostdeutschen Opernhaus inszeniert. Marmor- und holzgetäfelte Räume mit Herrscherbüsten, schwere, dunkle Möbel in einem Interieur, an denen der Zahn der Zeit nagt und in denen der Geist Erich Milekes zu spuken scheint... In Wotans Büro wird Cognac getrunken, viel geraucht und die Männer machen die Geschäfte und Verträge unter sich aus. Die Kostüme, gestaltet von Elena Zaysteva, hängt dieser gewisse Charme des Gewesenen ebenso an: Loge im senfgelben Samtanzug, Fafner im braunen Ledermantel und Wotan mit karamellfarbenen Jackett bilden dabei farbenreiche Hingucker.

Trotz der visuell beeindruckenden Szenerie zogen Christian Thielemann und die Staatskapelle Berlin alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie boten ein überaus langsames, doch stets auf feine Akzente bedachtes Dirigat an. Bereits die 136 Takte des sich langsam entfaltenden, anschwellenden Vorspiels gerieten überaus zurückhaltend, dafür aber ganz neue Klangfarben und Details offenbarende und Kommendes vorbereitende Interpretationen. Wie kein zweiter meisterte Thielemann im Rheingold die Kunst eines überaus differenzierten und interpretationsreichen Dirigats, ohne auf allzu effektvolle Übertreibungen setzen zu müssen. Oft hielt er die Musiker*innen mit dezenten piani im Zaum, sodass den Sänger*innen mehr Entfaltungsraum gegeben wurde. Zusätzlich unterstützt von den langsamen Tempi nutzten besonders Johanns Martin Kränzle und Michael Volle dies aus, um ihre Rollen so auszugestalten, dass das Publikum ihnen förmlich an den Lippen hing.

Peter Rose, Mika Kares, Lauri Vasar, Rolando Villazón, Siyabonga Maqungo, Claudia Mahnke, M. Volle
© Monika Rittershaus

Volle glänzte mit seiner markanten, einzigartigen Stimme, die er deklamatorisch fesselnd, ganz wie im Liedgesang, einsetzte, um so seine Erzählung zu entfalten. Und auch Kränzles Alberich, ein im Labor missglücktes Experiment, das zu einem nicht mehr zu haltenden Frankensteinschen Monster mutiert, stellte diese Rolle stets und auf unheimliche Weise überzeugend, mit seiner klaren aber intensiven Baritonstimme, dar.

Zwischen diesen beiden erfahrenen Wagner-Sängern stach Rolando Villazón mit seinem Rollendebüt als Loge deutlich heraus. Der mexikanische Tenor, Regisseur und Moderator gab sich als Feuergott sowohl charmant als auch schmierig überzeichnet und spielte im Grunde doch nur sich selbst. Gestenreich umherzappelnd versuchte er als Rampensau über stimmliche Unzulänglichkeiten hinwegzutäuschen. Auch er genoss die Vorteile des langsamen Dirigats und konnte so mit guter Diktion und herber Tenorstimme glänzen, bis er später den hohen Anforderungen dieser Rolle langsam erlag und immer weniger stimmliche Ausgestaltung anbieten konnte und freier interpretieren musste.

Michael Volle (Wotan), Stephan Rügamer (Mime) und Rolando Villazón (Loge)
© Monika Rittershaus

Das Rheingold als Ensemble-Oper lebte auch an diesem Abend von den Höchstleistungen der kleinen Rollen – Anna Kissjudit als ätherisch stimmschöne Erda, Mika Kares und Peter Rose als stimmgewaltige Riesen und Claudia Mahnke als Parade-Fricka mit glanzvoll pointierter Mezzostimme.

Dieses Rheingold eröffnet den neuen Berliner Ring mit vielen interessanten Ansätzen, doch man bekommt das Gefühl, dass Tcherniakov viele seiner Ideen noch nicht preisgeben möchte. Er spart sie sich auf und steigert so den Reiz dieser Produktion. Ob sein Ring-Experiment glückt, kann wahrscheinlich erst nach 16 Stunden entschieden werden. Doch musikalisch haben Christian Thielemann und die Berliner Staatskapelle bereits entschieden, dass dieser Ring ein großer Erfolg ist!

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