Was wurde nicht alles in Ravels La Valse hineininterpretiert. Wer wollte, der konnte in dieser Komposition nicht allein die Zerstörung des Wiener Walzers, sondern gleich den Untergang der Donaumonarchie musikalisiert hören. Zubin Mehta ging an das Stück nüchterner heran. Offenbar weiß er, dass Ravel, der die „wunderbaren Rhythmen“ des Walzers liebte, in La Valse eine „Hommage an den großen Strauß“, eine Apotheose des Wiener Walzers, die in einen „phantastischen und fatalen Wirbel“ führt, geschrieben hat.
Mehta dirigierte, wie gewohnt, kontrolliert und die Staatskapelle Berlin glich manches aus, was ihnen an Einsätzen vorenthalten wurde. Sie kennen einander und arbeiten seit Jahren sehr entspannt zusammen. Doch der Preis dafür war ein Musizieren mit angezogener Handbremse, bei dem sich kein bis zur Sinnestäuschung gesteigerter Taumel, kein „bacchantischer Wahnsinn“ des Walzers, wie ihn François-Xavier Roth mit den Philharmonikern 2015 so furios gestaltete, entwickeln wollte.
Martha Argerich betrat die Bühne, um eines ihrer Lieblingsstücke zu spielen: Ravels G-Dur-Klavierkonzert, das der Komponist selbst zunächst „Divertissement“ nennen wollte, weil er die Meinung vertrat, dass ein Konzert heiter und brillant sein könnte ohne „Anspruch auf Tiefgründigkeit zu erheben oder nach dramatischen Effekten zu trachten.“ Darum passte hier die Art der Zurücknahme, Präzision und Eleganz bestens. Argerich schüttelte die dem Jazz und Blues abgelauschten Rhythmen aus ihrem allemal noch lockeren Handgelenk heraus. Höhepunkt war der langsame Satz mit seiner für Ravel so typischen gläsernen Melancholie, die Argerich nachdenklich in Töne zu übertragen verstand. Im letzten Satz kam Zirkusatmosphäre auf. Die Rhythmik der Themen war durch Synkopen und Off-beats geprägt, die Argerich vital, technisch sicher und brillant umzusetzen wusste. Für den herzlichen Beifall bedankte sich Martha Argerich mit der Gavotte aus Bachs Englischer Suite Nr. 3 g-Moll, BWV808 als Zugabe.
Auch wenn ich mich dagegen wehren wollte, wünschte ich mir doch Rattle am Pult für den anschließenden Strawinsky. Wenn er Sacre dirigierte, hatte jede Synkope Feuer, jagte jeder Tuttischlag an manchmal sogar über die Schmerzgrenze hinaus, um das eruptive Naturereignis eines Aufbrechens der Erde zu Gehör zu bringen. Hatte sich Mehta von Strawinsky den Bären aufbinden lassen, mit dem dieser, seine russischen Wurzeln verleugnend, einem französischen Reporter erzählte, dass Sacre eine „handlungslose Instrumentalmusik“ wäre? Oder wollte Mehta den Nachweis erbringen, dass Boulez zu Recht behauptete, Strawinsky wäre im Sacre wie ein Mathematiker beim Kürzen verfahren? Es schien so, als begnügte sich Mehta damit, die verschiedenen Glieder der Partitur auf die einfachsten Verhältnisse zu bringen.
Nach dem eröffnenden Fagottsolo in extrem hoher Lage, erwachte weder der wilde russische Frühling noch tanzte sich am Ende ein junges Mädchen mit einem ekstatischen Solo zu Tode. Das urtümliche Stampfen, mit dem Strawinsky die Saiteninstrumente zum Schlagwerk mutierte, waren an diesem Abend bloße, repetierende Begleitung. Metallisch hart schlugen die Streicher den Sacre-Akkord in die Saiten, doch wenn die Hörner ihre Rufe auf ganz unterschiedlichen Taktteilen dagegensetzten, klang dies wie ein rhythmisches Experiment, bei dem Bruchstücke aus einem heterogenen Ganzen herausgenommen waren, so als hätte Strawinsky sein kompositorisches Schablonen-Verfahren als Selbstzweck und nicht als Ausdrucksmittel eingesetzt.
Zu hören war ein verhalten-virtuoses Konzert für Orchester, das die Staatskapelle unter ihrem im ersten Rang aufmerksam zuhörenden Chef souverän musizierte. Dabei erbrachten die MusikerInnen den Nachweis, sich nicht von den ständigen Taktwechseln und der sich darin äußernden Emanzipation des Rhythmus von aller metrischen Symmetrie beirren zu lassen, sondern derartige Anstrengungen geschlossen zu meistern. Das wird zu gerne als selbstverständlich hingenommen.