Der Krieg verändert alles, auch Konzertprogramme: Zum ersten Mal stand Oksana Lyniv am vergangenen Wochenende am Pult des Deutschen Symphonie-Orchesters in Berlin. Lange im Voraus geplant waren dabei Rachmaninows Drittes Klavierkonzert mit Mao Fujita und Dvořáks Symphonie Nr. 8. Zu ihnen gesellte sich nun Jewhen Stankowytschs Elegie in memoriam Stanislaw Ljudkewytsch, der als Edukator das Musikleben in der Ukraine maßgeblich geprägt hat.
Lang gezogene Linien, ineinandergeschlungene Melodien, wehklagende Untertöne – Stankowytschs Elegie ist ein sanfter Einstieg in den musikalischen Abend. Entsprechend suggestiv mit weiten Bögen und ohne Taktstock formt Lyniv mit mal raumumgreifenden, mal schlanken Gesten den Klang des Orchesters. Höhepunkt des kurzen Stückes ist ohne Frage das vom ersten Konzertmeister Wei Lu vorgetragene Lamento, das in Teilen an den Klang slawisch-jüdischer Geigentradition erinnert.
Wie kompliziert die Frage von Herkunft, Heimat und Gegenwart manchmal ist, beweist die Biographie des zweiten Komponisten des Abends, der an diesem Tag seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte: Sergej Rachmaninow. Auf die Elegie des ukrainischen Komponisten folgte das ebenso von Sentimentalität geprägte Konzert für Klavier und Orchester d-Moll, Op.30 des Russen, der das Land im Zuge der Revolution 1917 verließ und nie mehr zurückkehrte. Anstelle des ursprünglich geplanten Nikolai Lugansky ist der japanische Pianist Mao Fujita eingesprungen und zeigt sogleich, welch interessanter Interpret er ist.
Fujita beginnt mit weichem aber betontem Anschlag, skizziert mit klarer Artikulation sternenklar. Nur sparsam setzt der junge Pianist das Haltepedal ein, offenbart so kleine Details in der dichten Partitur, die sonst allzu häufig in den Klangmaßen untergehen. Das wirkt im ersten Moment ungewohnt, ist man doch häufig eher den breiten Klangstrich gewohnt, ist aber nach erster Unsicherheit ob des Ungehörten auf Seiten des Hörers eine spannende Einsicht in ein altbekanntes Werk. Fujita zeigt neben der funkelnden Klarheit seines Spiels dabei viel Sinn für das große Ganze. Niemals versucht er sich in den Vordergrund zu spielen, sondern betont die charakteristische Einheit zwischen Klavier und Orchester in Rachmaninows Werk. In dieser Interpretation sind sich Fujita und Lyniv ganz einig. Die zurückhaltende Dynamik führt zu schön abgestimmten, feinen Höhepunkten, die zugleich Melancholie und Poesie des Stückes betonen.
Dabei zeigt die Dirigentin, ebenso wie in der darauffolgenden Achten Symphonie von Antonín Dvořák, ihr ganzes Können im Formen des Orchesterklanges. Lyniv zaubert im dritten slawischen Stück des Abends einen leicht-feinen und dennoch scharfkantigen Klang. Dabei zeigen auch kleine Gesten große Wirkung im Orchester. So klingen der Einleitungs- und der Schlusssatz von Dvořák intensiv und feurig, bieten viele Kontraste. Die Binnensätze sind genussvoll weich mit großen Tempodehnungen. Kleiner Wermutstropfe dabei: Berliner bleiben Berliner und so klingt das Deutsche Symphonie-Orchesters im Adagio zumeist doch eher preußisch-akkurat als böhmisch-schwelgerisch. Spätestens die strahlende Trompetenfanfare und sorgsam aufgebauten Höhepunkte des abschließenden Allegro ma non troppo machen das aber wieder wett.
Just kurz vor dem Konzert unter Lynivs Leitung verkündete der DSO-Chefdirigent und künstlerische Leiter Robin Ticciati seinen verfrühten Abschied aus Berlin in zwei Jahren nach acht Jahren an der Spitze des Orchesters. Lyniv hat ihren Handschuh in den Ring geworfen – und auch wenn wahrscheinlich höhere Aufgaben auf die ukrainische Dirigentin warten, würde man sie dennoch gerne häufiger in Berlin sehen.