Der in Berlin lebende Komponist Enno Poppe beschreibt seine Musik als „verbogene Natur”. In seinem Werk geht es ihm um die Reflexion verschiedenster traditionellen Formen und Genres. Er analysiert deren jeweilige Sprache und setzt die so gewonnen Merkmale mit neuen Regeln wieder neu und eigensinnig zusammen. Unabwendbar jedoch gehorchen seine Stücke ab einem gewissen Punkt ihren eigenen Regeln: „Komponieren ist für mich ein Prozess, bei dem ich von etwas ausgehe und irgendwo anders lande. Für mich existieren die Ideen nicht außerhalb der Musik, sondern in ihr und unterliegen daher denselben Prozessen des Wachsens, Anhaftens und Verschwindens wie alle anderen Bestandteile der Musik.“

Bas Wiegers
© Foppe Schut

Wie auch die Kompositionen Schrank und Koffer ist Speicher (2008/13) ein Stück, das sich mit der Ordnung musikalischer Ideen beschäftigt. Im Titel schwingt auch der Prozess des individuellen Erinnerns mit, ebenso wie dessen Verformungen. So bilden die leisen Bratschenglissandi zu Beginn von Speicher I eines der Leitmotive, die mit dem Zuhörer während der 75 Minuten dauernden Aufführung mitreisen. Aus diesen kleinen Motiven webt Poppe einen sich stets weiter ausdehnenden Klangteppich. Der sich im Laufe der Stücke mit unterschiedlichen Besetzungen kontinuierlich verändernde Ensembleklang durchläuft nicht nur dynamische, rhythmische Extreme, sondern auch den gesamten Tonraum aller beteiligter Instrumenten. Zusätzlich würzt Poppe seine Komposition mit schwebenden, den Grundton immer aufs Neue verändernden Vierteltonkombinationen. Man weiß nie, was als nächstes Klang(un)geheuer um die Ecke kommt. Nur eines ist sicher, diese Musik spannt auf die Folter und macht atemlos. Poppe spielt mit Erwartungshaltungen und erweitert den Erlebnisraum der Möglichkeiten dessen, was aktuelle Musik sein kann. Humor, Schmerz, Spannung und selbst Überdruss gehören zur Gefühlspalette, die seine vom Klangforum Wien meisterhaft gespielte Partitur im Muziekgebouw Amsterdam hervorrief.

Aber Speicher ist auch ein formal konzipiertes Werk. Die unabhängig voneinander entstandenen sechs Teile stehen in derselben Beziehung zueinander wie die Zahlenfolge 8-3-4-6-2-12. Das heißt, der letzte Teil Speicher VI ist der längste, er dauert etwa 20 Minuten, gefolgt (in der Dauer) von Speicher I. Die sechs Teile selbst bestehen alle ebenfalls aus sechs Teilen, in eben dieser gleichen Proportionsfolge.

Bas Wiegers dirigiert das Klangforum Wien
© Foppe Schut

In Speicher III werden die Spieltechniken Glissando und Vibrato fast absurd übertrieben. Speicher V ist eine extrem beschleunigte Wiederholung von Speicher I, während Speicher VI eine ausgesponnene Variation ist, mit langen Linien und großen akkordischen Strukturen.

Der in Amsterdam wohnende niederländische Dirigent Bas Wiegers leitete akkurat und schwungvoll und hielt die Musiker auch in virtuos schnellen Passagen respektvoll bei der Stange. Vor allem in den langsamen Teilen behielt er die Übersicht und sorgte so für einen phänomenalen Spannungsbogen.

Zwei Musiker dieses internationalen Solistenensembles fielen im Muziekgebouw positiv aus dem Rahmen: da war Posaunist Mikael Rudolfsson mit einer Batterie von Dämpfern, die er ebenso behändig wie behutsam wechselte und damit alle Stile vom Jazz bis zur Volksmusik quietschvergnügt und mit nicht enden wollender Spielfreude in den Saal katapultierte. Saxophonist Gerald Preinfalk war zwischen seinen Holzbläserkollegen weniger gut sichtbar als sein Bläserkollege. Aber die Farben seines Alt- und Sopransaxophons waren desto besser zu hören. Ob er sich unter gedämpften Streicher, zur Soloharfe, mit seinen Klarinettenkollegen oder um die Wette mit dem Blech in den musikalischen Ring begab, Preinfalks Saxophonklang nestelte sich ins Ohr und traf jedes Mal präzise den Nerv dieser unglaublich geistreichen Musik.

„Klingende Musik ist nie abstrakt“, sagt Poppe. „Ich möchte etwas erleben, wenn ich Musik höre. Die Musik, die es schon gibt, ist dafür manchmal nicht genug.“ In Amsterdam hat er gestern mit diesem Credo ohne den geringsten Zweifel sein Publikum erreicht.

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