Es beginnt in einem Gefängnis und endet damit, dass sich dieses gegen den Hintergrund ins Licht und in die Freiheit öffnet. Nein, die Rede ist hier nicht von Otto Schenks Fidelio-Inszenierung, sondern von Kirill Serebrennikovs biographisch geprägtem Blick auf Parsifal, und der sieht die Gralsritter rund um den Tätowierer Gurnemanz und den angeschlagenen Anführer Amfortas als Gefängnis-Insassen, und Kundry als Journalistin bei Klingsors Lifestyle-Magazin, die von den sportelnden, prügelnden und Drogen dealenden Knastbrüdern Pin-Up-Fotos macht.

Nikolay Sidorenko und Klaus Florian Vogt (Parsifal)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Pandemiebedingt fand die Premiere im April 2021 ohne Publikum an der Wiener Staatsoper als Streaming-Event statt, und bei der ersten „echten“ Aufführung im Dezember saß ich in der ersten Reihe und hatte an diesem Abend eines meiner schönsten und seltsamsten Opernerlebnisse gleichzeitig: einerseits die Gelegenheit, das Wandern der Leitmotive durch die Instrumentengruppen aus nächster Nähe zu erleben, andererseits ein Buh-Konzert für die Inszenierung schon nach dem ersten Aufzug – und das in Wien, wo man sich noch an die von Richard Wagner selbst begründete Regel hält, der zufolge nach dem ersten Aufzug nicht einmal applaudiert werden soll.

Franz-Josef Selig (Gurnemanz), Klaus Florian Vogt (Parsifal) und Ekaterina Gubanova (Kundry)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Dass es auch anders geht, zeigte der besprochene Abend vom Ostersonntag, der zwar bei weitem nicht ausverkauft war, aber immerhin ordentlich beklatscht wurde. Zugegeben: Das liegt weniger an der mit viel zu viel Action überladenen Regiearbeit als an der musikalischen Darbietung, doch muss man Serebrennikov zugutehalten, dass er sich eingehend mit dem Werk auseinandergesetzt hat und neben Unsinn wie Parsifal als Mörder eines ihn sexuell belästigenden Mithäftlings (ein mit Schwanenflügeln tätowierter, weißblonder Jüngling) und dem Gral aus dem Versandkarton auch Details zeigt, die zum Nachdenken anregen: Wer sind denn die Guten und Schönen – die Blumenmädchen oder die eingesperrten Gralsritter? Auf einer Triptychon-artig dreigeteilten Leinwand über der Bühne sieht man jedenfalls ästhetische Aufnahmen von originell wie künstlerisch tätowierten Gefängnisinsassen und deren Alltag, während der Auftritt der Blumenmädchen mit recht unvorteilhaften Nahaufnahmen von Frauengesichtern ergänzt wird. Durch diese Video-Ergänzung der Bühne (Foto- und Videodesign: Aleksey Fokin und Yurii Karih), die für sich schon zwei- bis dreigeteilt ist und dauernd mit individuellen Handlungen bespielt wird, hat man immer etwas zu schauen, was eine nicht unwillkommene Abwechslung zu den traditionellen Ritter-Massenauftritten ist. Allerdings nehmen die visuellen Eindrücke oft überhand, und man läuft Gefahr, den Fokus zu verlieren. Wer zusätzlich die Untertitel mitlesen muss, ist nicht zu beneiden.

Derek Welton (Klingsor) und Ekaterina Gubanova (Kundry)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Immerhin ersparten sich das die Deutschsprechenden weitgehend, denn die ausgezeichnete Besetzung bot durchgängig Diktion in Perfektion. An erster Stelle Klaus Florian Vogt, der in dieser Serie sein überfälliges Wiener Parsifal-Debüt gibt – und dieses gerät sensationell. Seine Stimme ist wohl bekannt, und sie hat eine besondere Eigenschaft, die gerade in dieser Inszenierung sehr wirkungsmächtig ist: speziell in den rezitativischen Teilen wirkt sie extrem groß und klar, und damit gerät das Doppelspiel, das er bei Serebrennikov mit dem Schauspieler Nikolay Sidorenko als Parsifals junges Alter Ego abliefern muss, zu einem Erlebnis – man nimmt Vogt verstärkt wahr, so wie der Erzähler in einem Film lauter als die eigentlichen Darsteller wirkt. Und so gelang ihm das Kunststück, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sodass man Sidorenko weniger als sonst im Blick hatte, auch wenn dieser ein einnehmendes Portrait des jungen Parsifal zeichnete.

Bedeutend leiser als Vogt, aber ebenso passend ging es dafür Franz-Josef Selig als Gurnemanz an, der die Partie mit geradezu großväterlicher Strenge wie Güte anlegte. Selig verfügt über eine sehr tragfähige Stimme, die er auch auf durchschlagskräftig einsetzen kann, aber an diesem Abend zog er die Aufmerksamkeit gerade durch seinen sanfteren Zugang auf sich, und das war bei der multiplen Dauer-Bespaßung dieser Inszenierung eine kluge Entscheidung.

Michael Nagy (Amfortas)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Als Amfortas präsentierte Michael Nagy eine ausgewogene sängerische Leistung mit glaubhafter Emotion – mit dem Leiden kann es allerdings nicht so schlimm sein, wenn ihn Serebrennikov im dritten Aufzug auf einen Tisch hüpfen lässt. Wolfgang Bankl gab einen eindringlichen Titurel aus dem Off; er war 2021 als schmieriger Klingsor zu erleben, wohingegen Derek Weltons Klingsor darstellerisch wie gesanglich aalglatt daherkommt – bis er von Kundry erschossen wird. Als letztere begeisterte Ekaterina Gubanova, die sich in dieser Männerwirtschaft glaubhaft Respekt ersingt. Insbesondere die exaltierten Stellen, allen voran „Ich sah ihn und lachte“ gerieten ihr großartig, und wie sie als Chef-Verführerin die „kindischen Buhlen“ abservierte, war ebenso ein Genuss wie die Ausgewogenheit der Blumenmädchen. Für eine stimmliche Überraschung unter den teils prominent besetzten Nebenrollen sorgte Opernstudio-Mitglied Lukas Schmidt, dem die kleine Tenorpartie des Dritten Knappen locker und deutlich aus der Kehle kam.

Überraschend auch das Dirigat von Philippe Jordan, für seine Verhältnisse aber eher under par. Seinen beiden letzten Parsifal-Darbietungen hatte ich in ausgezeichneter Erinnerung, doch wälzte sich das Vorspiel diesmal überbreit dahin, bis den Bläsern fast die Luft wegblieb. Die Vorstellung von Klingsors Zaubergarten fiel dafür eher hektisch als magisch aus, auch wenn das zu einer Zeitschriftenredaktion passt. Besonders schön gerieten die großen symphonischen Stellen mit den Glocken, und die Chöre bewiesen wieder einmal, warum Parsifal trotz Regie-Untiefen ein erhebendes Werk ist.

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