Am Anfang ist sie eine von uns, uns Zuschauern. Sie hat sich in die erste Reihe gesetzt, und nur an ihrem dunkelblaugrauen Trikot mag man erkennen, dass sie Tänzerin ist, in diesem Fall Rocio Aleman, eine der fünf ersten Solistinnen des Stuttgarter Balletts – und mit gleich mehreren Ersten Solistinnen sowie fast allen Ersten Solisten hätte man dieses Ballett grandioser kaum besetzen können, und das völlig zu Recht, denn diese Choreographie ist genau betrachtet ein Stück über den Tanz. Treten drei Tänzer zusammen auf, dann nennt Jiří Kylián das ganz klassisch balletttechnisch Pas de trois, bei vier Tänzern Pas de quatre, treten die Tänzer allein auf, sind es naturgemäß Solos.
Doch wenn zwei Tänzer sich auf der Bühne zu einem Paar finden und wie Agnes Su und Friedemann Vogel vollendet zeigen, was es im Ballett heißt, dem jeweils anderen Stütze und Ergänzung zu sein, oder wenn Elisa Badenes und Matteo Miccini ihre komische Ader in einer burlesken Paarbeziehung ausleben können, dann nennt Kylián die Nummern Duets, und das ist eine ganz andere Sprache als es das klassische Pas de deux wäre; ein Duett ist eine enge Paarbeziehung.
Denn dieses Ballett ist auch, vielleicht sogar in erster Linie ein Stück über Menschen, ja sogar Menschen wie du und ich, wie eben Rocio Aleman, die als Protagonistin nahezu die ganze Zeit über auf der Bühne ist, mal als Akteurin im Treiben der übrigen Figuren, mal als Beobachterin wie wir, die Zuschauer, aus deren Mitte sie auf die Bühne geschritten ist. Sogar in den beiden Pausen zwischen den drei Akten – wieder ein Begriff, der weniger der Sprache des Balletts, sondern der des Theaters entstammt – können wir bei hochgezogenem Vorhang sehen, wie sie sich auf den nächsten Auftritt konzentriert, während auf der Bühne der Umbau für den nächsten Akt vonstatten geht.
Es geht Kylián vor allem um die Frage, welche Funktion der Mensch in der Welt allgemein, in der Gesellschaft im Besonderen hat. Das Stück entstand gewissermaßen als staatliche Auftragsarbeit: So wollte die niederländische Regierung das 150-jährige Jubiläum ihrer Verfassung nicht einfach nur durch Reden feiern, sie wollte etwas Dauerhaftes und beauftragte den Direktor des Nederlands Dans Theater, Jiří Kylián, mit einem Ballett, und der – noch ungewöhnlicher – nahm sich den ersten Satz dieser Verfassung zum Thema: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden.“ So geschehen 1998: One of a Kind nannte Kylián sein neues Stück, auf deutsch etwa „einzigartig“.
So beginnt das Ganze mit dem Eintreten eines Menschen in eine neue Welt, gewissermaßen mit der Einwanderung, und dieser Mensch, so Kylián, kann jeder sein, auch du und ich. Also erhebt sich eben in der ersten Zuschauerreihe eine Frau, klettert über die Rampe und bewegt sich auf die Bühne zu – zögernd sich tastend wie in eine fremde Welt. Aleman gestaltet diese Unsicherheit geradezu mädchenhaft naiv, was durch den langen Zopf ihrer Frisur noch unterstrichen wird, ein Mensch, der erst noch zu sich finden muss in einer neuen Welt, die sie mit Blicken und tastenden Schritten zu erkunden sucht.
Die Welt, in die sie auf der Bühne eintritt, ist freilich alles andere als einladend. Als Bühnenbild hat Atsushi Kitagawara mit Bauten und raffinierten Lichteffekten eine kalte Umgebung gestaltet, die wie ein Eismeer wirkt, man kann sich an die einsamen Bildwelten eines Caspar David Friedrich erinnert fühlen. Und hier trifft sie nun auf die anderen. Jeder Tänzer offenbart in seinem Solo eine eigene Individualität – der eine verhalten, in sich gekehrt, der andere flatterhaft wie ein Vogel, was zu den Flageoletttönen des Cellos hervorragend passt, das im Wesentlichen die Musik des Abends bestreitet.
Aus der Vereinzelung werden Begegnungen – Zweierbeziehungen. Mit dem einen ergeben sich vertrauliche, poetisch anmutende Begegnungen, mit dem anderen entwickelt sich Streit, in einem dritten Fall versucht jeder der beiden, seine eigene Individualität zu wahren – was in einer Dreierbeziehung noch schwerer ist, denn hier ist immer einer zu viel, entweder ein Mann oder eine Frau, je nach Geschlechterzusammensetzung. In der Vierergruppe wiederum ist perfekte Harmonie möglich, weshalb die vier Tänzer in dieser Konstellation denn auch absolut symmetrische Bewegungen ausführen. Das kann man als Inbegriff der Harmonie deuten, birgt aber zugleich die Gefahr, dass hier jeder seine Individualität aufgegeben hat zugunsten einer Einheit. Vittoria Girelli, Mackenzie Brown, Alessando Giaquinto und Timoor Afshar loten diese zwiespältigen Qualitäten eines Pas de quatres perfekt aus.
Und Kylián beschönigt nichts: Gemeinsamkeit mit anderen ist inspirierend, fördert die eigene Individualität, birgt aber auch Gefahren, die bis zur körperlichen Gewalt reichen. Am Ende trennen Schnurvorhänge die Protagonistin von dem Treiben der anderen, schließlich bleibt sie allein auf der Bühne zurück und schreitet langsam nach hinten hinaus: Das Individuum braucht die Gesellschaft, ist aber doch stets auch „einzigartig“.
Vor vier Jahren hat das Stuttgarter Ballett dieses Meisterwerk in sein Repertoire geholt, jetzt ist es zum Teil mit anderer Besetzung wie etwa der grandiosen Rocio Aleman wieder im Programm – eine Bereicherung in jeder Sekunde der rund hundertzwanzig Minuten.