Eigentlich ist er die wichtigste Figur in diesem Ballett, schließlich schenkt Pate Drosselmeier am Weihnachtsabend seiner Nichte Clara jenen Nussknacker, in den sich das Mädchen sofort verliebt, der vor ihren Augen im Kampf gegen den Mäusekönig in Gefahr gerät, von ihr gerettet wird und sich in einen schönen Prinzen verwandelt. In seinem Ballett, das Marius Petipa mit Peter Iljitsch Tschaikowsky auf die Bühne bringen wollte, was dann aus Gesundheitsgründen sein Schüler Lew Iwanow choreographisch realisierte, taucht dieser Drosselmeier allerdings nur im ersten Akt auf, danach verselbständigt sich die Handlung mit Blick auf Clara und den in den Nussknacker verwandelten Neffen von Drosselmeier.
Nicht so bei Edward Clug. In seiner für das Stuttgarter Ballett choreographierten Deutung steht Drosselmeier fast in jeder Sekunde mit auf der Bühne. Ohne ihn geht nichts, insofern bewegt sich Clug ganz in Richtung auf E.T.A. Hoffmann zu, von dem das Märchen stammt und auf den Clug sich ausdrücklich bezieht, das freilich für die Ballettversion seinerzeit von Marius Petipa so drastisch gekürzt wurde, dass es kaum mehr kenntlich ist. So sorgt Drosselmeier bei Clug für alles, was sich nach Ende des Weihnachtsabends ereignet – er überwacht, ja inszeniert gewissermaßen die nächtliche Schlacht in Claras Schlafzimmer, er begleitet sie in das Märchenreich durch den Schneewald und führt sie schließlich sicher in die Arme seines wieder in einen Menschen verwandelten Neffen.
Mit seiner grandiosen tänzerischen Präsenz machte Jason Reilly diesen Drosselmeier zu einer Art Spiritus Rector des Ganzen. Dennoch überlässt Clug seiner Clara genügend Raum zur weiblichen Hauptfigur. Elisa Badenes gestaltete sie mädchenhaft und zugleich schon erwachsen souverän. Und Friedemann Vogel konnte seine Brillanz in der Doppelrolle Nussknacker/Drosselmeiers Neffe unter Beweis stellen: In einer Szene wechselt er zwischen beiden Rollen in Sekundenschnelle, indem er vorn und hinten unterschiedliche Kostüme trägt und die Schritte des Nussknackers rückwärts ausführt.
Dabei hält Clug raffiniert in der Schwebe, ob das, was sich ab dem nächtlichen Krieg zwischen Mäusen und Zinnsoldaten bis hin zum Märchenschloss vollzieht, reales Geschehen oder Claras Traumfantasie ist, deren Bett sich wie ein Leitmotiv durch die Szenen zieht. Dazu passt auch, dass er den Tanz der Zuckerfee, eigentlich Teil jenes traditionell zum klassischen Ballett des 19. Jahrhunderts gehörenden Divertissements, das Choreographen von heute nicht geringe Probleme bereitet, an den Anfang der märchenhaften zweiten Balletthälfte stellt und so auch musikalisch den Übergang von der Biedermeierwelt des Weihnachtsabends in das Reich der Märchenfantasie deutlich macht.
Der Gefahr des klassischen Divertissements entgeht Clug zum Teil, indem er die einzelnen Nummern gewissermaßen als märchenhafte Etappen einer Reise ins Unbekannte präsentiert: Die Figuren zu den meist kurzen Tanzdarbietungen schlüpfen aus riesengroßen Walnüssen hervor, in der letzten wartet dann Drosselmeiers Neffe auf die geliebte Clara. Trotz aller szenischen Fantasie, zu der vor allem die Kostüme von Altmeister Jürgen Rose beitragen, haben viele dieser Szenen nach wie vor den Charakter des Schautanzes, ob nun drei Toreros tanzen oder drei Kosaken mit Matroschkas; brillant dagegen das Kabinettstück elegant tanzender Kamele – von einem Frauen- und einem Männerpaar in Kostümen dargeboten.
So bleibt trotz des Versuchs, die raffinierte Mischung von Realität und Fantasie von E.T.A. Hoffmann zu retten, nicht viel mehr als ein allerdings brillanter farbenreicher Bilderbogen, in dem Clara allzu harmlos auf das liebe Mädchen, das alle Welt miteinander versöhnt, reduziert ist. Vor allem hat Clug nicht die Chance genutzt, Drosselmeier als wahrhaft Hoffmannsche Gestalt auf die Bühne zu bringen, denn mit seiner von allen gerühmten Begabung für mechanische und optische Gerätschaften steckt ein Verwandter von E.T.A. Hoffmanns dämonischem Coppelius. In diesem Ballett hat Jason Reilly über weite Strecken nicht viel mehr zu tun, als pantomimisch Clara den Weg zu weisen. Lediglich am Ende kommt ihm noch einmal ein zusätzlicher Auftritt zu, den er exakt an der Grenze zwischen zwei Welten – der Bühne und dem Zuschauerraum – beendet. Hier deutet sich an, welche philosophischen Möglichkeiten und Tiefen einer Deutung dieses Balletts aus dem Geist eines E.T.A. Hoffmann dann doch vertan wurden.