Die Premiere von Now here, now always, dem aktuellen dreiteiligen Tanzabend des Nederlands Dans Theater 2, hatte ich im Oktober leider wegen eines Zugunglücks verpasst. Mitten am Tage stand ich damals auf dem Bahnhof von Emmerich und harrte geduldig der Dinge, die da kommen würden. Es wurde ein langes Warten mit sehr gemengten Gefühlen, nachdenklich machenden Beobachtungen und einem glücklichem Ausgang. Welch ein Glück, dass ich die Vorstellung nun endlich in Haarlem doch noch sehen konnte.
Der Abend begann mit einem sehr persönlichen Werk von Marco Goecke, The Big Crying (2021). Goecke begann die Arbeit an diesem Ballett kurz nach dem Tod seines Vaters. Die Bewegungssprache ist erst kantig und flatterhaft, dann phasenweise ekstatisch und explosiv, und voller erotischer Andeutungen und Abschiedsmotive. Ein überdimensionaler Bunsenbrenner taucht anfangs die Bühne in rotgelbes Licht (Udo Haberland), dazu passend ertönt ohrenbetäubendes Feuerknattern aus den Lautsprechern gefolgt von melancholischen Songs von Tori Amos. Schnelle, staccatoartige Armbewegungen der meist einzeln und in höchster Konzentration auf die Bühne laufenden Tänzer vermitteln die sehr individuellen, für Außenstehende meist unergründlichen Gefühle von Trauer, Schmerz und Verstrickung. Die kurzen Begegnungen der Tänzer umschreiben Hunger nach Nähe, aber auch Schmerz, Angst und verzweifelte Einsamkeit. Aber Goecke geht viel weiter in seiner tänzerischen Analyse von Trauerarbeit. Die Tänzer schreien um die Wette und das geht unter die Haut. Danach lachen sie im Chor, was unnatürlich wirkt, fast obszön. Ätzend wird dieses choreographierte Gemeinschaftslachen auf ihrem Höhepunkt, wenn es sich als Auslachen einer einsam in der Mitte stehenden Tänzerin entpuppt. Das Stück endet versöhnlich mit 14 kurzen persönlichen Abschiedsgesten, die haarfein ausdrücken, wie wichtig ehrliche Anteilnahme ist.
Im Mittelpunkt vieler Arbeiten von Andrew Skeels steht die fließende Partner- und Gruppenarbeit. Seine neue Arbeit Brocken Spectre entstand in Zusammenarbeit mit NDT 2. Auch Skeels Choreographie behandelt das Thema Abschiednehmen. Aber auch Flucht und Vertreibung und die mitmenschliche Aufnahme von Menschen in Not kann man in diesem Tanzstück erleben. Auf die ergreifende Musik von Johannes Brahms' Alt-Rhapsodie entwickelt Skeels eine tragische, fast unzeitgemäße Reflexion auf Trauer und Mitmenschlichkeit. Brocken Spectre endet verspielt mit einem Zaubertrick: neun der zehn jungen Tänzer verschwinden wie von magischer Hand unter einem wallenden dunklen Leinentuch.
Der schwedische Choreograph Alexander Ekman sorgte mit Cacti (2010) für einen äußerst amüsanten Ausklang dieses Abends: Mitreißend, ironisch, bissig und virtuos beleuchtet Ekman die gangbare Rezeption von modernem Tanz und bietet dank der brillanten witzig-raffinierten Texte von Spenser Theberge intime Einblicke in die Denkwelt von Tänzern und Choreographen. Sechzehn Tänzerinnen und Tänzer sind auf riesigen Quadraten platziert, sie rennen, springen und erstarren im ständig wechselnden Rampenlicht (Tom Visser). Dazu spielt ein Streichquartett aus Musikern des Niederländischen Ballettorchesters einfühlsam spritzig und im Stehen Musik von Haydn, Beethoven und Schubert. Der Höhepunkt von Cacti ist ein als Probenstück verkleidetes Pas de deux, in dem als Deus ex machina eine Katze auf die Bühne geworfen wird. Spätestens hier fällt mit einem befreienden Lachen alle vorher aufgebaute Schwermut vom Publikum ab. Die Spontanität versprühenden jugendlichen Tänzer trommeln schwungvoll und wirbeln akrobatisch über ihre beweglichen Dekorstücke. Ein Ende dieses Tanzspektakels wollte sich scheinbar nicht finden: jedoch war dies ganz im Sinne der Zuschauer, die kaum Abschied nehmen konnten von so viel leichtfüßiger Herrlichkeit.