Vorwarnung beim Betreten des Foyers: „Hohe Schuhe mit dünnen Absätzen bitte zu Hause lassen bzw. an der Garderobe gegen unsere Hausschuhe austauschen. Sie gehen teilweise auf Bodengitter.” Die meisten Sitze im Zuschauerraum des Theaters Basel sind mit weißen Tüchern abgedeckt. Nach dem musikalischen Prolog wird das Publikum aufgefordert, sich auf die Bühne zu begeben. Diese besteht nicht aus dem üblichen Bretterboden, sondern einem flächendeckenden Metallgitter. Wenn man durch das Gitter nach unten blickt, entdeckt man dort, wie in einem Verließ, das Sinfonieorchester Basel mit dem Dirigenten Stefan Klingele.
Auf der Bühne sitzen bereits Choristen und Statisten. Flüchtlinge dem Anschein nach. Nachdem man zu Beginn an den Rändern der Bühne Platz genommen hat, darf man sich direkt unter die Sängerinnen und Sänger mischen. Später wird man aufgefordert, sich flach auf eine Militärwolldecke zu legen, was den unangenehmen Gedanken an ein Lazarett aufkommen lässt. Noch beklemmender wird es, wenn einen die Choristen und Statisten, jetzt sind es Revolutionäre, mit einem Seil zu einer dicht gedrängten Masse zusammenzwingen und einem ihre revolutionären Parolen ins Ohr schreien. Das Publikum als Mitspieler – es ist das hervorstechendste Merkmal dieser Inszenierung von Benedikt von Peter, seines Zeichens Intendant und Künstlerischer Leiter Oper am Theater Basel.
Gegeben wird Luigi Nonos Intolleranza 1960, vom Komponisten als „szenische Handlung in zwei Teilen” bezeichnet. Das im genannten Jahr komponierte und 1961 an der Biennale Venedig uraufgeführte Stück ist später mehrfach auf namhaften Bühnen nachgespielt worden, unter anderem 2021 bei den Salzburger Festspielen. Dennoch ist eine Aufführung des Werks auch heutzutage eine Rarität. Wie denn überhaupt die szenischen und konzertanten Werke Nonos, der zusammen mit Boulez und Stockhausen zu den Begründern der Darmstädter Avantgarde zählt, zu selten in den Opern- und Konzerthäusern zu hören sind.
Das Bühnenstück Intolleranza, dessen Libretto Nono unter Verwendung verschiedener dokumentarischer und lyrischer Texte selber schrieb, ist eine leidenschaftliche Anklage gegen Unterdrückung und Verletzung der Menschenwürde. Im Zentrum der Handlung steht ein Emigrant, der des Schuftens in einem Bergwerk in der Fremde überdrüssig ist. Auch die Frau, mit der er ein Liebesverhältnis hat, kann ihn nicht zurückhalten. Auf dem Heimweg gerät er unfreiwillig in eine Demonstration, wird verhaftet und in einem Konzentrationslager gefoltert. Nach seiner Flucht begegnet der Emigrant einer zweiten Frau, die seine Gefährtin und Hoffnungsträgerin wird. Mit ihr zusammen kämpft er gegen die Wassermassen eines gebrochenen Flussdamms. Beide begeben sich – zusammen mit ihren Schicksalsgenossen – freiwillig in die Flut, in der Hoffnung, auf der anderen Seite die Heimat oder zumindest die Utopie der Freiheit zu finden.
Der Tenor Peter Tantsits verkörpert bei dieser B-Premiere die Hauptfigur des Flüchtlings als innerlich getriebene Wozzeck-Figur. Die Mezzosopranistin Jasmin Etezadzadeh gibt die Geliebte im Bergwerk als fordernde Powerfrau. Mit lichter Engelsstimme dagegen singt die junge Ukrainerin Inna Fedorii die (für das Publikum unsichtbare) Rolle der Gefährtin. Kleinere Partien realisieren Kyu Choi als Mitgefangener und Artyom Wasnetsov als Gefolterter. Die eigentliche Hauptrolle jedoch kommt dem Chor des Theaters Basel zu. Er stellt wirkungsmächtig das geschundene und ausgebeutete Kollektiv dar, das auf verschiedene Situationen mit Resignation, Wut oder Agitation reagiert. Im Sinne Nonos, der bekanntlich aktives Mitglied der kommunistischen Partei Italiens war, verkörpert das Kollektiv die guten Menschen, die trotz aller Unterdrückung die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgeben.
Der Kollektivgedanke prägt auch Nonos Orchestersprache, die mehr dem vertikalen Klang als der horizontalen Linie verpflichtet ist. Ästhetisch pflegt der Komponist einen aus der Schönberg-Schule herausgewachsenen seriellen Ansatz, der sowohl dem Orchester wie auch den Vokalisten grosse Treffsicherheit abverlangt. Dadurch ergibt sich eine interessante Spannung zwischen dem anspruchsvollen avantgardistischen Musikstil und dem Appellcharakter der Handlung.
Benedikt von Peters Inszenierung hinterlässt, zusammen mit der Choreographie von Carla vom Hoff, der Bühnengestaltung von Katrin Wittig und den Kostümen von Geraldine Arnold, starke Bilder. Sie prägen sich dem Publikum, das auf der Bühne zum Zeugen und Mitgestalter des Geschehens wird, unauslöschlich ein. Was fehlt, sind die Aktualisierung und die kritische Auseinandersetzung mit Nonos politischer Sicht.
Die historischen Ereignisse, auf die der Komponist zurückgreift, sind etwa der Einsturz eines Bergwerks in Belgien, der Algerienkrieg der Franzosen oder ein Deichbruch in der Po-Ebene, aus denen Nono seine Widerstandsthematik ableitet. Schade, dass der Regisseur diesen Katalog nicht durch vergleichbare Ereignisse in jüngerer Zeit erweitert hat. So hätte das zur Zeit seiner Uraufführung brennend aktuelle Werk von seiner inzwischen unleugbaren Patina befreit werden können. Fukushima, Goldminen in Lateinamerika, Syrienkonflikt, Eritrea? Zudem hätte auch eine etwas kritischere Einstellung zu Nonos politischer Schwarz-weiß-Sicht gutgetan. Die Propagierung des Kommunismus zur Lösung der drängenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme kann 62 Jahre nach Intolleranza nicht mehr als realistische Option angesehen werden.