Es gibt Interpreten, deren musikalische Deutungen bei einem Kritiker entweder starke Bewunderung oder aber radikale Ablehnung hervorrufen. Und es gibt auch Kompositionen, bei denen solches geschieht. Beim Auftritt von Fazıl Say in einem Klavierkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart und der Darbietung von Richard Strauss’ Alpensinfonie durch das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi zeigte sich dieses Phänomen gleich in doppelter Weise.
Als Interpret gilt Say unter anderem als Mozart-Spezialist. Die bereits zweimalige Einspielung aller Sonaten und jene einiger Konzerte zeugen davon. In der Zürcher Tonhalle stand das A-Dur-Klavierkonzert KV488 auf dem Programm. Es handelt sich da um ein populäres, unterhaltsames und heiteres Opus, das durch seine Entstehungszeit im Bann der Opera buffa Le nozze di Figaro steht und in Tonart und Verwendung einer Klarinette im Orchester auf das Klarinettenquintett vorausweist. Dass Järvi mit einer relativ großen Streicherbesetzung aufwartete, war schade. Denn bei einem kleineren Streicheraufgebot hätte man das Holzbläsertrio mit Flöte, Klarinette und Fagott sowie die beiden Hörner deutlicher herausgehört. Und zweitens wäre der Kontrast zur Monsterbesetzung der Alpensinfonie ohrenfälliger gewesen.
Im ersten Satz konnte man noch nicht eindeutig erraten, wohin die interpretatorische Reise des türkischen Pianisten gehen würde. Sein Spiel war technisch perfekt, meist anmutig perlend in den Läufen, manchmal überraschend im Herausheben bestimmter Details. Warum gerade diese leichte Dehnung oder jener Akzent, mochte man sich fragen. Für das Auge störend war auf jeden Fall die affektierte Mimik des Künstlers und sein fast ständiger Blick ins Publikum. Kommunikationspartner wären doch eigentlich der Dirigent und das Orchester. Im zweiten Satz nahm Say die übrigen Mitwirkenden kaum mehr wahr. Und sein gewähltes Tempo geriet so langsam, dass die Satzstruktur in Einzelteile zerfiel. Nach dem Mozart-Biographen Alfred Einstein handelt es sich, trotz Mozarts Tempobezeichnung Adagio, eigentlich um ein Andante. Mit einem etwas schnelleren Tempo wäre dann auch der typische Siciliano-Charakter besser zum Tragen gekommen. Say unterlag hier – wie manchmal auch andere Pianisten – dem Missverständnis, dass Innigkeit nur mit schleichendem Tempo zu erreichen sei.
Einen starken Kontrast bot der abschließende dritte Satz. Bei diesem Rondo drehte der Solist dynamisch mächtig auf, haute insbesondere bei den Basslinien kräftig in die Tasten des Steinway-Flügels, dass da von Mozartischem Geist nicht mehr viel zu spüren war. Und unglücklicherweise ließ sich auch Järvi auf dieses Kräftemessen ein. Einen ganz anderen Fazıl Say lernte man bei der Zugabe kennen. Mit seiner Eigenkomposition Black Earth, die den Bogen von türkischer Volksmusik bis zu Jazzklängen spannt, spürte man plötzlich eine Authentizität, die man vorher vermisst hatte.
Eine Alpensinfonie von Richard Strauss, 1915 in Berlin uraufgeführt, polarisiert bis heute. Die Verächter dieser sinfonischen Dichtung werfen ihr Effekthascherei, fehlenden sinfonischen Zusammenhang und ein banales inhaltliches Programm vor. Keiner dieser Vorwürfe trifft zu. Die Riesenbesetzung ist eine Konsequenz, die sich aus Strauss’ Vorgängerwerken sowie seiner Verehrung für Gustav Mahler ergibt. Die sinfonische Form bleibt trotz der Kleingliedrigkeit der Abschnitte gewahrt, etwa durch die Bogenform und zwei Hauptthemen, die sich in zahlreichen Varianten durch das Werk ziehen. Und das Programm ist wesentlich mehr als die musikalische Beschreibung einer Bergwanderung; vielmehr bietet es, wie die Tondichtung Also sprach Zarathustra, nichts Geringeres als die Auseinandersetzung mit Nietzsches atheistischer Philosophie.
Die Tonhalle Zürich ist für den sinfonischen Koloss eigentlich zu klein. Aber man kann es dem Chefdirigenten und seinem Orchester nicht verübeln, dass sie das Werk auch einmal vor dem Heimpublikum präsentieren wollten. Obwohl Järvi bekannt dafür ist, dass er es manchmal gerne so richtig krachen lässt, brauchte man als Zuhörer in keinem Moment die Ohrenstöpsel aus der Tasche zu kramen. Abgesehen vom Sonnenthema, das beim ersten Auftreten eindeutig zu laut daherkam, verstand es der Dirigent, die dynamischen Höhepunkte dosiert einzusetzen. Mächtig und erhaben erklangen die beiden Hauptthemen Auf dem Gipfel, die totale Entfesselung brachte aber erst der berühmt-berüchtigte Abschnitt Gewitter und Sturm. Eine weitere Qualität der Aufführung war die geradezu demonstrative Darstellung der raffinierten Instrumentation des Werks, die sich auch in den filigranen und lyrischen Partien zeigte. Das selbstbewusst auftretende Tonhalle-Orchester hatte sichtlich seinen Spaß an der Darbietung.