Es gibt Konzerte, die man nicht vergisst. Das IV. Abonnementkonzert der Staatskapelle Berlin war ein solches. Ursprünglich wollten Daniel Barenboim, Cecilia Bartoli und die Staatskapelle ein Berlioz-Konzert geben. Doch als sie sich dazu entschlossen hatten, das Konzert dem Gedenken an Jürgen Flimm zu widmen, wurden vor der Pause anstelle des Liedzyklus Les nuits d’été zunächst zwei Mozart-Arien aufgeführt. Dem ehemaligen Intendanten der Staatsoper Berlin hatte Mozart sehr nahegestanden und er hatte als Regisseur dessen Opern, mehrfach auch mit Cecilia Bartoli, auf die Bühne gebracht. So erläuterte es Barenboim in seiner kurzen, liebeswürdigen Ansprache vor dem Publikum, die er dem Konzert vorausschickte.
Zu Beginn erklang Mozarts-Konzertarie „Ch‘io mi scordi di te?“, die beide schon häufiger miteinander musiziert haben. So mit dem recht unbekannten Stück gut vertraut, konnten sie feine Details hörbar machen, die Mozart in diese Musik hineingelegt hat. Wenn Bartoli das Wort „sempre“ ins schier Unendliche dehnte, dann tröpfelte Barenboim im Klavier Herzschlag-Motive hinein. Opernhaft wurde es, als Bartoli eine Ohnmacht andeutete – diese Passage verlangte einen sehr langen Atem von ihr – und Barenboim dazu Seufzerfiguren intonierte.
Eine echte Musiktheaterszene sang Cecilia Bartoli, nun im Duett mit dem Klarinettisten Matthias Glander, dann in „Parto, parto, ma tu ben mio”, Sestos Selbstverteidigungs-Arie aus La Clemenza di Tito. Deren Koloraturen formte sie nicht allein in schöne Tongirlanden, sondern ließ sich in diesen selbstanklagend die ganze Palette verwirrter Gewissensbisse ausbreiten.
Dass am Rand des Podiums mit Bedacht ein Cembalo stand und nicht etwa darum, weil es am Vorabend weg zu transportieren vergessen wurde, machte die Zugabe deutlich, die vielleicht als das eigentliche Gedenkstück für Flimm musiziert wurde: Händels Arie „Lascia, ch‘io pianga“ – in der Fassung aus seinem Oratorium ll trionfo del tempo e del disinganno, das Flimm selbst vor Jahren an der Staatsoper auf die Bühne gebracht hatte. Barenboim spielte am Cembalo, und es gab nicht wenige im Saal, die ihn zum ersten Mal in die Tasten dieses Instruments greifen hörten. Bartoli weinte ihre Klage in einer nicht in Worte zu fassenden Schönheit.
Doch wer geglaubt hat, dass nun der Hauptteil des Konzertes vorbei war und im zweiten Teil nur noch ein Repertoirestück das Konzert abrundete, wurde eines Besseren belehrt. Barenboim hatte in vergangenen Zeiten auch mitunter eine bekannte Symphonie durchgewinkt. Zweifellos hat er sich aber in die ihm sehr vertraute Partitur der Symphonie fantastique hineinversenkt, um sie dann mit bedachtsamen Akzenten zu einer Aufführung zu bringen, die nun auch die ins Staunen versetzte, die das Werk oft gehört haben. Ausführlich bereitete er in der Introduktion das große Drama vor und brachte den ersten Satz als einen großen Orchester-Monolog zum Klingen. Auf- und abwärtslaufende Tonleitern ersetzten die hehre thematische Arbeit in der Durchführung und ließen jede Aktion zum Leerlauf werden. Jeder Versuch, an den Anfang zurückzugelangen, scheiterte und wenn am Ende des Satzes das Thema wiederkehrte, dann blickte sein Zerrbild auf das Finale voraus. In Klangschönheit gab sich der Protagonist den religiösen Tröstungen hin. Mit ähnlicher Sorgfalt und Liebe zum Detail kam die Ball-Szene zu Gehör. Jeder Nebenstimme wurde auch in der Szene auf dem Lande Beachtung geschenkt. Nicht eine Note wurde überspielt – so als ginge es darum, den von Liebeskummer Gequälten in ländlicher Ruhe zu heilen. In den letzten beiden Sätzen wurde extrovertierter, auch raffinierter, dabei aber keinesfalls sorgloser oder gar vordergründiger musiziert als in den ersten drei Sätzen. Diese Aufführung machte ohrenfällig, was unter dem Spätstil eines Dirigenten sinnvoll wohl zu denken wäre.