Unter besonderen Vorzeichen stand das jüngste Konzert des Gewandhausorchesters unter der Leitung seines Chefdirigenten Andris Nelsons. Auf dem Programm: Eine Komposition von Nelsons wohl berühmtesten Vorgänger als Gewandhauskapellmeister, Felix Mendelssohn Bartholdy. Stolze 528 Musiker*innen in Orchester und Chor standen am Pfingstsonntag des Jahres 1836 auf der Bühne des Niederrheinischen Musikfestes in Düsseldorf als Mendelssohn Bartholdy die Uraufführung seines Paulus-Oratoriums dirigierte. Vom Saulus zum Paulus, vom gesetzestreuen Juden zum christlichen Missionar – fünf Jahre später ist das erste Drittel des Werkes erstmals im Gewandhaus zu Leipzig unter der Leitung des Komponisten zu hören, noch ein paar Jahre wird es bis zur ersten Gesamtaufführung dauern. Jetzt die Neuauflage unter Nelsons, zum ersten Mal in seiner Leipziger Amtszeit.
Der Dirigent und das Gewandhausorchester geben sich dabei ganz der Mendelssohnschen Klangschönheit hin. Mal gewaltig, aber über weite Teile erzählend-introvertiert, ist das erste Oratorium aus der Feder des Komponisten, später gefolgt vom dramatischeren Elias und dem unvollendeten Christus, gestaltet. Seidig-glänzend und licht beginnt die Ouvertüre unter Nelsons, doch schon bald sind dramatische Untertöne zu hören. Sie sind Vorboten der inneren und äußeren Konflikte, die der Protagonist der neutestamentarischen Erzählung, die auch sprichwörtlich den Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat, auszufechten hat. Dennoch ist Nelsons’ eine Interpretation, die den Mittelweg sucht und nur selten in die dramatischen Extreme geht. Das Klangmalen mit breitem Pinsel funktioniert vor allem in der ersten Hälfte, durchzogen von ihren großen Chören und Chorälen, gut, wenn auch in der handlungsärmeren letzten vier Szenen eine feinere Zeichnung zu einer detailreicheren Zuspitzung geführt hätte.
Es ist die ausschweifend erzählende zweite Hälfte mit ihren langen predigthaften Monologen, die am Paulus, im Vergleich zu Mendelssohns späteren Oratorien, häufig kritisiert wird. Nach seiner Uraufführung vor fast 200 Jahren wurde das Oratorium zwar zunächst zu einem Publikumserfolg, im Verlauf der Geschichte geriet es aber immer mehr in den Schatten des bekannteren und häufiger gespielten Elias. Die Sänger*innen geben dennoch ihr bestes: In der Doppelrolle als Saulus und Paulus ist Georg Zeppenfeld kurzfristig für den erkrankten Christian Gerhaher eingesprungen. Mit viel Gefühl für das Zweifelnde aber auch das Dramatische gibt er einen edel-modulierenden und sehr textdeutlichen Protagonisten. Auch mehrmals wiederholte Textstellen weiß er immer wieder neu auszuleuchten, um ihnen wandelnde Bedeutungen zu geben. An seiner Seite gestaltet Werner Güra mit besonnen-narrativer Tenorstimme. Julia Kleiter überzeugt ebenso mit ihrem kraftvoll-dramatisierenden Sopran. Ergänzt wird das Gesangsquartett für einen Kurzauftritt von Wiebke Lehmkuhl mit souverän-warmer Altstimme.
Aufleuchtende Trompeten und Posaunen im Choral „Wachet auf!, ruft uns die Stimme“, sanft und dennoch kraftvolle Flötentöne (unter anderem) im Chor „Siehe! Wir preisen selig, die erduldet haben“ und elegisch-warme Cellosoli in Zusammenspiel mit der Tenorrolle in der Cavatine „Sei getreu bis in den Tod“ – der Gewandhauskapellmeister und sein Orchester schaffen eine reiche tonale Klangfarbigkeit. Dabei häufig mit Mittelpunkt: Der MDR Rundfunkchor, prominent platziert auf der Orgelempore über dem Orchester, mit sonorer Stärke. Die Sänger*innen formen ihren herausfordernden Auftritt zwischen virtuosem Chorsatz und kompletativen Chorälen bravourös. Das wandlungsfähige Vokalensemble, vorbereitet von Philipp Ahmann, erlebt seinen gestalterischen Höhepunkt im Chor als preisende Menge „Mache dich auf, werde Licht“ und im anschließenden Choral. Es sind gerade diese großen Chormomente, die ein monumentales Klangbild zeichnen und den Abstand zwischen Paulus und Elias schmelzen lassen.