„Gib uns Antwort“, fleht der Chor im ersten Teil von Felix Mendelssohns Elias – doch mal um mal antwortet niemand, nicht einmal ein Husten verirrt sich im weiten Rund des philharmonischen Weinbergs. Zum Bersten gespannt ist die Stimmung in den momenteinfrierenden, scheinbar endlosen Generalpausen, mit denen Chefdirigent Kirill Petrenko den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin Einhalt gebietet. Was, wenn die eigenen Grundfesten in Frage gestellt werden? Zweifel und Verzweiflung sind die Themen dieses Abends, an dem alle Beteiligten den Elias in all seiner dramatischen Wucht zu einem Erlebnis werden lassen.

Kirill Petrenko dirigiert Mendelssohns Elias
© Lena Laine

Unabwendbares Unheil verkünden bereits die ersten düsteren Akkorde des einleitenden Fluches. Drei Jahre soll weder Tau noch Regen kommen. Bedrohlich-aufwühlend schreitet das Orchester unter seinem Chefdirigenten in den Abend. Gemeinsam erzählen sie die alttestamentarische Geschichte des von Gott gesandten Propheten Elias. Auf die Erde geschickt, die Ungläubigen zu strafen, muss er ein Tal der Selbstzweifel durchschreiten, um den vermeintlich wahren Glauben zum Sieg zu führen und in den Himmel aufzufahren.

Bereits Wochen im Voraus war die Philharmonie ausverkauft für diesen und die beiden weiteren Elias-Abende. Die Berliner Philharmoniker stellen mit Mendelssohns zweitem Oratorium unter ihrem Saisonschwerpunkt „Identitäten“ die Frage nach den eigenen (Glaubens-)Grundsätzen und deren Umsetzung. Dabei erweist sich das Werk als unerwartet aktuell. Ersetzt man die Frage nach Gott und Glauben mit Werten und Weltanschauung hallt sein Grundkonflikt bis in die heutige Zeit nach. Bei seiner Premiere in Birmingham in Jahr 1846 gefeiert, wurde es nicht zuletzt durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten – dessen Absurdität auf ironische Weise in Jiří Weils tschechischem Klassiker Mendelssohn auf dem Dach verdeutlicht wird, in dem beinahe aufgrund der Größe seiner Nase die Figur Richard Wagners anstelle von Mendelssohn vom Dach des Prager Rudolfinums entfernt wird – von den deutschen Spielplänen folgenschwer lange verdrängt.

Christian Gerhaher
© Lena Laine

Alter Glaube, neuer Glaube, falscher Glaube, (ver)fehlender Glaube – kontrastreich, spannungsgeladen und unausweichlich ist Petrenkos Interpretation des Werkes. Dabei lotet der Dirigent die ganze Flexibilität des Orchesters aus. Momente der Stille wechseln sich ab mit musikalischen Höhepunkten: Selten hat man diese Turboformation dabei so sanft und leise gehört. Mit vollem Körpereinsatz beleuchtet Petrenko die Schärfen und Dissonanzen des Oratoriums. Keine übermäßige Sentimentalität, wenig uneingeschränkte Lobpreisung – hier ist Mendelssohns Musik nicht einfach wohlklingend, sondern wirft die großen Fragen des Seins auf. Das wäre wahrscheinlich ganz im Sinne des Komponisten, der bei der Premiere die Süße der Interpretation bemängelte.

Passend dazu liefert Christian Gerhaher ein eindrückliches Psychogramm der Hauptfigur des Elias zwischen gebieterischer Strenge eines gewaltvollen Aufrührers und dem Leid eines melancholisch-resignierenden Zweiflers. Ob liedhaft-weich in „Es ist genug“ oder kraftvoll-virtuos in der felsenzerschlagenden Zornesarie „Ist nicht des Herrn Wort wie ein Feuer“ zeigt der Bariton seine Wandelbarkeit und Gestaltungskraft. Ihm gegenüber steht die stimmliche Naturgewalt des Rundfunkchors Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars). Mit immenser Flexibilität und Scharfsinn navigieren sich die Sänger*innen durch den Abend, der wieder einmal bezeugt, welch großartiges Ensemble dieser Chor ist. Elsa Dreisig mit süß-glänzendem Sopran, Altistin Wiebke Lehmkuhl – mal flüstern-weich, mal kraftvoll-durchdringend – und Daniel Behle als diskret-auftrumpfender Tenor komplettieren den Abend.

Elsa Dreisig und Wiebke Lehmkuhl
© Lena Laine

Farbenreich und reichschattiert formt Petrenko sie alle zu einem großen Ganzen. Wenig lobpreisend dafür spannungsreich und energiegeladen ist sein Elias-Dirigat. Es sind die außerordentlichen Momente der Stille, die es so besonders machen und nachwirken. Ihr Klang ist mindestens genauso wichtig wie jedes überwältigende Orchestertutti oder jubilierende Chöre. So führt er den Elias aus dem Reich des Schönen und macht ihn zu einer emotional-existenzialistischen, an das Innerste gehenden Selbstbefragung. Was, wenn der eigene Glauben keine Antwort gibt? Was, wenn die Werte keinen Halt mehr bieten? Was, wenn wir selbst Verantwortung übernehmen müssen? Ein wahres Plädoyer für Mendelssohns Musik.

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