Der gerade erst zwanzigjährige Mendelssohn begab sich 1829 auf eine dreijährige Bildungsreise, die ihn zunächst nach England und im Sommer dann auch auf die Inselgruppe der Hebriden vor die Westküste Schottlands führte. Die Fingalhöhle (Fingal's Cave) und die wilde, raue schottische Landschaft müssen ihn stark beeindruckt haben, inspirierten sie ihm zu ersten Skizzen seiner Konzert-Ouvertüre Die Hebriden. Heute ist dieses Werk nicht mehr aus den Konzertprogrammen wegzudenken und auch schon bei Mendelssohns Zeitgenossen trafen Die Hebriden auf große Bewunderung, so gab Johannes Brahms zu: „Ich wollte meine sämtlichen Werke dafür hingeben, wenn mir ein Werk wie die Hebriden Ouvertüre gelungen wäre.“
Auf diese Ouvertüre Mendelssohns Schottische Symphonie folgen zu lassen, scheint hier die logische Konsequenz. Doch statt eine stürmische, erhabene See oder die rauen, wilden Landschaften Schottlands lautmalerisch in dieser Charaktersinfonie zu evozieren, entschied sich Christian Thielemann, die Wiener Philharmoniker bei ihrem Konzert in der Alten Oper Frankfurt auf eine gemächliche, ausgeglichene Fahrt zur Insel Staffa zu senden.
Trotz hoher Transparenz im Orchesterklang und viel Detailverliebtheit, rückten die von Mendelssohn doch eigentlich bedachte Bildsprache dezent in den Hintergrund. In ungewohnt rascher Lesart, dabei auffallend filigran, hielt Thielemann das Orchester stets in seiner Lautstärke gedeckt. Mehr mezzo-piano als forte, dabei aber die Breite des Klangspektrums nutzend, drang Thielemann so zur Tiefe der Komposition. Denn gerade die Substanz in der vordergründigen Leichtigkeit und Einfachheit der Musik Mendelssohns zu finden, ist eine hohe Kunst, wie die Wiener Philharmoniker an diesem Abend zweifelsohne bewiesen. Mendelssohn variiert fortwährend seine Motive, die Partitur ist durchzogen von Wiederholungen mit minimalen Abwandlungen. Thielemann gelang es, diese zunächst schlicht anmutende Symphonie durch fortwährende Dynamikänderungen und kleinste Anpassung der Klangfarben hochkomplex und verflochten wirken zu lassen. Seine Interpretation war bis auf das kleinste Detail geschliffen, obgleich manches zunächst zufällig wirkte, offenbarte sich in den Wiederholungen ihre Originalität. Der Dirigent setzte seine unzähligen Farbtupfer behutsam und akzentuiert, aber keineswegs beiläufig. Die von Mendelssohn „stimmungsmordenden Pausen“ zwischen den Sätzen fügte Thielemann wieder ein und entsprach so voll und ganz seiner sehr freien Lesart der Schottischen Symphonie.
Nur vereinzelt zum Finale der Ouvertüre oder im letzten Satz der Schottischen, im Allegro vivacissimo, ließ er das Orchester zu hochdramatischen Orchestertutti aufbrausen, die die Wildheit der Natur in Form eines hochvirtuosen Spiels übersetzten und den geforderten guerriero gerecht wurde.
Der Abend, der zwei große Symphoniker des 19. Jahrhunderts verband, schloss mit Brahms Symphonie Nr. 2 D-Dur, Op.73 ab. Wo die aufbrausende, wilde See programmatisch für Mendelssohn ist, stimmt Brahms lautmalerisch eher pastorale Töne an. Hier gelang es den Philharmonikern direktere, aussagekräftigere Töne anzustimmen und mit empfindlicher Direktheit einen dichten, dramatisch einnehmenderen Klang zu zaubern.
Im zweiten Satz, dem Adagio non troppo, schöpfte Thielemann erzählerisch aus dem Vollen. Unglaublich tragend, mit höchster Dramatik schwang er große Bögen. Es mag wie eine Floskel klingen, aber bei Thielemann und den Wienern wird es zur seltenen Realität: Minimaler Handbewegungen bedurfte es nur, denen die Wiener Philharmoniker dem Dirigenten zugleich folgten und seine Gesten in expressive Klangsprache umsetzten.
Seit 2001 stehen das Orchester und Christian Thielemann regelmäßig zusammen auf den Konzertbühnen der Welt und die bereits über 20 Jahre währende künstlerische Verbundenheit blieb auch an diesem Abend deutlich zu spüren. So überrascht es umso mehr, dass dieser Abend dennoch eine Premiere ist, denn zusammen in der Alten Oper waren die Wiener und Thielemann zuvor noch nie.
Zum krönenden Abschluss feuerten Thielemann und die Wiener Philharmoniker noch eine Strauß-Polka als Zugabe hinterher, um zu zeigen, mit welcher Musik sie die unangefochtenen Meister sind!
Fast zu einer Institution sind auch schon die Musikseminare für Wissbegierige geworden, welche die Alte Oper regelmäßig vor ihren Konzerten anbietet. Statt der 15-30 minütigen Kurzeinführungen, wie sie bei vielen Konzerten gang und gäbe sind, leitete die renommierte Musikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Kienzle ein 90-minütiges Seminar, das einen besonders tiefen Einblick in die Biographie des jeweiligen Komponisten geben. In Vorbereitung auf den Abend mit den Wiener Philharmonikern nahm sie ihre interessierten Zuhören*innen auf eine Reise durch die schauerlichen Schauplätze Schottlands, wie sie Mendelssohn in den beiden Werken klangvoll reflektiert hat.