Der Johannistag, an dem Die Meistersinger ihren Wettbewerb abhalten, gilt im Bauernkalender als Lostag, also Wetterorakel für das restliche Jahr. In diesem Sinn will man hoffen, dass die Wiener Staatsoper für den Rest der Saison so viel Glück hat wie mit Keith Warners Neuinszenierung.
Es ist gut und sinnvoll, dass die jüngeren Regiearbeiten (insbesondere Barrie Kosky für Bayreuth) die Rezeptionsgeschichte der Meistersinger in den Fokus gerückt haben, ebenso zulässig ist es aber – ganz im Sinne einer Neuerung im Neuen – dieses Thema einmal ganz anders anzugehen, aber natürlich nicht unkritisch. Warner verortet seine Meistersinger nicht nur zwischen deren Entstehungszeit, dem Nürnberg des 16. Jahrhunderts und der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch zwischen Wirklichkeit, Traum und Wahn. Dadurch legt er sich nicht auf eine Lesart fest, sondern holt die Handlung durch seinen Fokus auf die psychologischen Mechanismen in und zwischen den Akteuren ins Hier und Heute.
Herausgearbeitet sind auch die musikalischen Zitate zum „Liebestod“ aus Tristan und Isolde, die in den Meistersingern so umgedeutet sind, dass Beckmesser wohl demnächst keine Frau für sich begeistern können wird, und Sachs Eva eben aus Liebe zu ihr, aber auch aus Vernunft aufgibt. Doch natürlich trauert er: Vor dem Preissingen gibt es einen Moment, in dem die Musik inmitten der Festtagsstimmung melancholisch wird – einen Moment, den Warner nützt, um Sachs unter der Wettbewerbsbühne auf sein Familiengrab und das Publikum in seine Seele blicken zu lassen. Nein, Verletzungen hat Sachs schon genug, weitere will er sich nicht antun.
Ganz anders gepolt ist Beckmesser, der bei Warner keine antisemitische Karikatur der Nazizeit ist, sondern durchaus in der Gegenwart zuhause sein könnte, nur dass er seine besserwisserischen Kommentare nicht im Internet posten kann. Wie die meisten Internettrolle ist er ein unsympathischer Selbstdarsteller, sodass man es Sachs kaum verübeln kann, wenn er Beckmesser zumindest nicht daran hindert, sich öffentlich zu blamieren – derartige Typen lernen in der Regel nur, wenn’s wehtut. Abgesehen davon kann Sachs nicht gleichzeitig für Evas Glück und für den schmierigen Beckmesser verantwortlich sein.
Die beiden Herren werden kongenial von Michael Volle (Sachs) und Wolfgang Koch (Beckmesser) gegeben. Bei beiden hat man das Gefühl, dass sängerisch wie darstellerisch der Gipfel erreicht ist. Kochs Mut, Ungustln wie Beckmesser zu spielen, ist nicht neu, und hier darf er auch noch komisch sein. So wie er breitbeinig das Podium besteigt und in seiner Version des Preisliedes „umfasert mir Hanf meinen Leib“ singt, hat Beckmesser vielleicht auch Hanf-basierte Substanzen intus. Der Unsinn, den er singt, wird auch noch mit passenden Projektionen auf den Torbogen über ihm (Bühne: Boris Kudlička) illustriert. Dass er vom Kostümbildner Kaspar Glarner für das Ständchen im zweiten Aufzug einen Anzug à la Thomas Gottschalk bekommt, und für den dritten eine Zirkusdirektorenuniform im Stil von Sergeant Pepper‘s Lonely Hearts Club, ist ein Geniestreich, denn damit wird die Kombination aus übersteigertem Selbstbewusstsein und „einsamem Herz“ auf den Punkt gebracht.
Sachs ist Volles Paraderolle, und man staunt, wie er dieser Figur in genau dieser Inszenierung noch einmal neue Facetten abgewinnt: Der Weltschmerz, der ihn plagt, weicht einem gerechten Zorn als zumindest eingebildeter Schwiegervater, wenn er Stolzing, durch den Gewinn von Wettbewerb und schöner Maid überheblich geworden, in die Schranken weist. Er wird wiederum in dieser Inszenierung vom Volk/Chor belehrt, indem sie seinem Lob der deutschen Kunst auch nicht-deutsche Werke buchstäblich entgegenhalten.
Das Altherren-Trio komplettiert Georg Zeppenfeld als Pogner, der zwar nobel singt und kostümiert ist, sich aber von Stolzing in dieser Inszenierung ein paar Geldscheine zustecken lässt. Letzterer ist mit David Butt Philip gut besetzt, doch meint man nach seinem grandiosen Laca, dass sein Stolzing noch reifen wird. Vom Volk/Chor bekommt er für seine „Performance“ beim Preissingen jedenfalls Karten mit der Höchstnote „10“ gezeigt. Als jugendlich-frische Eva überzeugt Hanna-Elisabeth Müller, die für diese Partie die ideale Stimme mitbringt: lyrisch grundiert, aber doch bereits mit deutlicher Tendenz ins jugendlich-dramatische Fach. Damit zeigt sie mehr eigenen Willen, als dieser Partie oft zugestanden wird.
Auch das Personal in den Nebenrollen macht Freude. Dass es in den Meistersingern nicht nur um Tradition und Neuerung, sondern auch um Alt und Jung geht, zeigt sich bei Martin Häßler als Kothner, der als junger Streber in der Tradition der Alten auftritt. Einen interessanten wie pikanten Gegenpol zum Verzicht des Alten auf die Junge (also Sachs/Eva) bildet die Zuneigung zwischen dem Lehrbuben David (gewitzt: Michael Laurenz) und Evas Amme Magdalene (mit stimmlicher Autorität: Christina Bock).
Philippe Jordan ist – um in der Diktion der Oper zu bleiben – ein Meister seines Fachs, aber am hier besprochen Abend gelang ihm und dem Staatsopernorchester erst der dritte Aufzug erwartungsgemäß. Nach einem eher schwammigen als energischem Vorspiel plätscherte der erste Aufzug mit zeitweisen Uneinigkeiten zwischen Bühne und Graben dahin. Die Steigerung bis zum Finale war beachtlich, ging allerdings auch mit vermehrter Lautstärke einher, und brachte die Sänger mitunter an ihre Grenzen. Nichtsdestotrotz: Ein Triumph.