Was für ein Aktfinale! Gerade eben noch hat Stephanie, frisch mit dem österreichischen Thronfolger Rudolf verheiratet, ein Negligé ausgesucht und erwartungsvoll der Hochzeitsnacht entgegengebangt, da wandelt sich ihre Vorfreude auch schon in Entsetzen – eine grandiose Charakterstudie von Diana Ionescu mit einem Wechselbad der Gefühle, denn der Ehemann kommt mit Pistole und Totenschädel ins Schlafzimmer, schießt in die Luft, liebkost lieber den Schädel als die Braut, und was dann folgt, ist weniger Liebes-Pas de deux als eine Vergewaltigung. Die Ehe ist bereits am Ende, spätestens als er seine Frau in ein zweifelhaftes Etablissement mitnimmt, von dem sie sich denn auch bald angewidert entfernt, derweil er mit leichtbekleideten Halbweltdamen schäkert.
Und auch die übrigen Pas de deux in Mayerling sind faszinierend, gleichen immer wieder eher Kämpfen denn emotional erfüllten Seelenbekundungen. Kenneth MacMillan hat hier eine große psychologische Einsicht in diesen zerrissenen Charakter bewiesen und tänzerisch umgesetzt. Die Frauen sind ihm allenfalls Amüsement, denn zu echten Gefühlen ist dieser junge Mann nicht fähig, und er nimmt sie sich, als stünden sie ihm zu, nicht als wolle er sie von sich überzeugen. Dabei ist jeder dieser Tänze unterschiedlich geprägt: von machohaftem Flirt über Zwang bis hin zu tatsächlicher Liebe im Fall der jungen Mary Vetsera, die seine letzte Geliebte werden sollte und wahrscheinlich seine einzige große Liebe war, mit der zusammen er 1889 in den Freitod ging. Bereits der erste ihrer beiden Pas de deux besteht weniger aus herkömmlichem Tanz als vielmehr aus einem symbolhaften innigen Verschmelzen der beiden Körper. Hier haben sich zwei Menschen gesucht und gefunden. Elisa Badenes gelang grandios der Übergang vom verspielten Mädchen zur liebenden, dem Geliebten mit jeder Faser ihres Körper und ihrer ganzen Seele anverwandelten Frau, die zugleich ihr eigenes Ich behauptet – zusammen mit Friedemann Vogel eine perfekte Gestaltung dieses Liebespaars.
Auch für die übrigen Hauptcharaktere findet MacMillan ausdrucksstarke Posen und Gesten, die ihre innere Haltung verraten: Rudolfs Mutter ist eine selbstverliebte Frau, die ohne Hemmungen mit ihrem Liebhaber tanzt – vor den Augen ihres angewiderten Sohnes. Ihrem Mann, Kaiser Franz Joseph, schenkt sie zum Geburtstag ein Porträt von dessen Geliebter: Mit Moral und Treue hat es diese Kaiserfamilie nicht sonderlich. Alicia Amatriain gestaltet Rudolfs abgelegte Geliebte in einer Mischung aus Hochmut, dem Versuch, den Mann doch noch wiederzugewinnen und einer intrigantenhaften „Rache“, indem sie ihn mit der jungen Mary Vetsera verkuppelt.
Das alles ist großartig durchdacht und choreographiert. Auch den schrittweisen Niedergang der Hauptfigur zeigt MacMillan überzeugend, vom Bonvivant, der nur der eigenen Lust frönt, bis zum von Migräneattacken gequälten Mann, der Drogen spritzt und Frauen als Mittel zum Vergessen benutzt. Friedemann Vogel dürfte hier die Rolle seines Lebens gefunden haben.
Das hätte eine grandiose Charakterstudie werden können, ein Kammerspiel um Lust, Liebelei, Ennui und echte Leidenschaft. Doch diese tänzerisch bravourösen Szenen nehmen zusammen noch nicht einmal eine Dreiviertelstunde ein, zu wenig für ein über dreistündiges Ballett. Der Rest besteht aus oft floskelhaftem Leerlauf. Handlungselemente werden pantomimisch angedeutet. Schautänze in einer Kneipe zerfasern das Psychogramm unerträglich aus. Zudem konnte sich MacMillan nicht von der historischen Vorlage lösen, bringt Szenen in sein Ballett ein, die mit der Charakterstudie kaum zu tun haben. Rudolfs politische Parteinahme für die ungarischen Freiheitskämpfer erschöpft sich in Einflüsterungen. So zerdehnt MacMillan, was eigentlich emotionale Konzentration erforderte, und kann sich nicht entscheiden zwischen detailverliebter Geschichtsstudie und psychologisch begründetem inneren Geschehen.
In diese Gefahr, im Historischen, Bilderhaften steckenzubleiben, hätte auch Jürgen Rose geraten können. Der für seine historische Detailtreue berühmte Bühnenbildner hat das Ballett für Stuttgart völlig neu ausgestattet mit rund zweihundert Kostümen, von denen keines dem anderen gleicht. Das hätte eine Ausstattungsrevue werden können, doch Rose hat auch psychologischen Feinsinn, und so hat er das Bühnenbild ganz in Grautönen gehalten, inspiriert von alten Fotografien aus jener Zeit. Damit rückt er das ganze äußere Handlungsgeschehen in eine Art Traumwelt, verleiht ihm etwas Unwirkliches, während nur die Figuren in ihren farbigen Kostümen Realität gewinnen. So gibt er dem Ballett auch in den zahlreichen Szenen, die unnötig in Details schwelgen, ohne der inneren Handlung Vorschub zu leisten, einen faszinierenden Sog rein durch die Ausstattung, die so zu einer heimlichen Hauptfigur wird. Er hat dem Ballett eine ganz neue Dimension verliehen.
Doch auch das ändert nichts an der Tatsache, dass sich in einem an psychologischer Tiefe so reichen Sujet über zu weite Strecken gepflegte Langeweile breitmacht. Ein großes Thema, wie geschaffen für die Tanzbühne, wurde letztlich verschenkt.