Wie viel ärmer wäre doch die Musikwelt, hätte Felix Mendelssohn nicht 1829 Bachs Matthäus-Passion der Vergessenheit entrissen und mehr als 100 Jahre nach der Uraufführung erstmals wieder zu Gehör gebracht! Ein großes Verdienst, auch wenn Mendelssohn mit seiner Aufführung nicht von der Praxis der Bach-Zeit ausging, sondern das Werk um wesentliche Teile gekürzt und ganz im romantischen Geist mit großem Orchester und einem 150-köpfigen Chor interpretierte.

Freiburger Barockorchester
© Britt Schilling

Wiederum rund 200 Jahre später sind wir eine historisch informierte Bachpflege gewohnt. Als nun das Freiburger Barockorchester Bachs Opus summum gemeinsam mit dem Vokalensemble Vox Luminis und den Freiburger Domsingknaben im Freiburger Konzerthaus aufführte, trat dies in ganz besonderem Maße zutage. Allein mit Vox Luminis als gemischtem Chor wurde von der Historie abgewichen. Alle weiteren Details entsprachen Bachs Intention genau. Da war zuerst einmal die konsequente Doppelchörigkeit: die räumliche Gegenüberstellung beider Chöre zu je 12 Sängerinnen und Sängern und ebenso beider Orchester (jeweils 17 Instrumente). So wurde schon im Eingangschor Bachs realistische Dramaturgie wunderbar deutlich. „Sehet”, ruft es von der einen Seite, „Was?” fragt die gegenüberliegende. Albert Schweitzer erkannte in diesem Chor die in Musik gesetzte räumliche Vorstellung Bachs, wie Jesus durch die Stadt Jerusalem nach Golgatha geführt wird. Und in der Gethsemane-Szene schreit der zweite Chor dem ersten entgegen: „Lasst ihn! Bindet nicht!”. Bachs einkomponierte Dramatik, vom Leipziger Konsistorium streng missbilligt, wurde den Augen und Ohren selten so offenbar wie in dieser Aufführung.

Wichtig war Bachs Kirchenoberen dagegen die religiöse Erbauung, schließlich war die Komposition Teil der Karfreitagsliturgie und zwischen beiden Teilen die Predigt angesetzt. Wie tief und berührend Bachs Passion die „Hörer zur Andacht ermuntern” kann, das ließ sich in dieser Aufführung ebenso großartig erfahren. In den insgesamt zwölf Chorälen kann die Gemeinde ihre Anteilnahme am Leiden Jesu ausdrücken und macht es sich gleichsam kollektiv zu eigen. Diese Strophen ließ Vox Luminis zu gesungenen Gebeten werden: als Bitte, als Schuldbekenntnis, als Mitleid oder als Bekräftigung im Glauben – all dies in würdevollem Ernst, starkem Ausdruck und die kunstvollen Harmonien Bachs wunderschön ausgesungen. 

In den Arien drückt sich die fromme Seele aus, sie bilden durch das Mitleiden mit der Passion Jesu den Kern religiöser Selbsterfahrung. Dem Altus Alexander Chance gelang es am eindrücklichsten, deren emotionalen Gehalt gesanglich zu formulieren. Unterstützt von den obligaten Instrumenten gelangen ihm berührende Momente, etwa in der Arie „Buß und Reu”, wo die Flöten das Tropfen der Tränen imitierten oder dem verzweifelten „Golgatha, unsel'ges Golgatha”, wo zwei Oboen da caccia zur traurigen Begleitung wurden.

Jede Arienbegleitung hatte ihre besonders charakteristische Farbe. Hille Perl war mit der Viola da Gamba die virtuose Begleiterin in der Bass-Arie „Komm, süßes Kreuz”, die von Sebastian Myrus wohlklingend und mitfühlend gesungen wurde, dem auch die Jesusworte zugeteilt waren, wodurch die Identifikation des Gläubigen mit dem Leiden Jesu besonders bekräftigt wurde. Sanft liegende Akkorde der Streicher bildeten die eindrucksvolle Unterstützung der Worte Jesu, ohne ihnen durch übertriebenes Tremolo einen sentimentalen Heiligenschein zu verleihen. Das Freiburger Barockorchester wusste genau, die Musik selbst sprechen und wirken zu lassen. Subtil malten die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten die feinen Klangfarben: neben den Streichern mit den Traversflöten, Blockflöten, der Viola d'amore und den drei Oboen in ihrer unterschiedlichen Stimmung.

Raphael Höhn, wie alle Solistinnen und Solisten Mitglied von Vox Luminis, war mit hellem und klar artikulierendem Tenor der berufene Sänger der Partie des Evangelisten. Er war ebenso sachlicher Chronist der Passionsgeschichte wie auch emotional Beteiligter. Sensibel spürte er den rhetorischen Aussagen des Textes nach, indem er den Rezitationston subtil variierte, etwa wenn Abscheu bei den Worten „mit Gallen vermischt” mitschwang.

So gelang an diesem Abend eine Aufführung, in der die ganze Vielfalt und kunstvolle Schönheit der Matthäus-Passion zur Blüte gelangte. Dies gelang in einer großartigen Ensembleleistung, bei der es einen Dirigenten im eigentlichen Sinne nicht brauchte. Lediglich die prägnant hervortretenden Domsingknaben bekamen im Hintergrund dirigentische Führung und aus der Mitte des Chores gab als künstlerische Leiter manchmal Lionel Meunier dezente Artikulierungszeichen. 

*****