Vor fünf Jahren hatte der langjährige Direktor des Nationale Ballet Ted Brandsen zum 100. Todestag der berühmten Niederländerin Margaretha Geertruida Zelle alias Mata Hari eine abendfüllende Balletterzählung über ihr Leben choreographiert. Gestern gab es zum ersten Mal nach 18 Monaten wieder ein ausverkauftes Haus bei der mittlerweile schon zweiten Reprise dieser großen Produktion mit über 70 Tänzern und dem ebenso groß besetzten Balletorkest unter Leitung seines Chefdirigenten Matthew Rowe. Die teilweise extravaganten historisierenden Kostüme von François-Noël Cherpin und das gleichermaßen fantasievolle und funktionelle Bühnenbild von Clement & Sanôu bildeten die optimalen Rahmenbedingungen für einen hochklassigen emotionellen Tanzabend.
Mit ihrem vielschichtigen Libretto war es der Dramaturgin Janine Brogt auf imposante Weise gelungen, Haris unfassbar ereignisreiches Leben auf gut zwei Stunden zu komprimieren. Sie brachte damit nicht nur die unterschiedlichen Lebensstationen (Leeuwarden, Java, Paris und Berlin) auf die Bühne, sondern erzählte ganz nebenbei auch ein kleines Stück Geschichte des modernen Tanzes. Neben rituellen Tempeltänzern und schrillen Cancan Tänzerinnen hatten nämlich auch Sergei Djagilew mit seinem Ballets Russes und Isodora Duncan (Erica Horwood mit einem genialen Solo) eindrucksvolle Auftritte.
Anna Tsygankova tanzte die von ihr mitentwickelte Choreographie der Mata Hari mit überirdischer Leichtigkeit, überzeugte aber nicht nur mit ihrer unfassbar eleganten Körperbeherrschung und Technik, sondern nahm ihr Publikum vor allem mit ihrer bestechend expressiven Dramatik vom ersten Augenblick an gefangen. Tsygankova überzeugte auf Schritt und Tritt als Protagonistin eines von unzähligen schweren Verlusten bevölkerten kurzen Lebens als experimentierfreudige Streiterin für ihr Recht auf Lebensglück. Als kurz vor ihrer Exekution alle wichtigen Episoden ihres Lebens in einem Ringelreihen an ihr vorübertanzen, bekam dieser Abend Wehmut und Tiefgang zugleich. Es gelingt Brandsen und dem Komponisten Tarik O’Regan an dieser Stelle die unfassbare Traurigkeit all ihrer durchlebten Verluste auszudrücken. Da erscheint das früh von ihrem Vater verlassene einsame Mädchen mit dem roten Schal, ihre erste große Liebe zu ihrem 20 Jahre älteren Mann Rudolph McLeod und der Tod des gemeinsamen Sohnes in Indonesien, an dem diese Ehe zerbricht. James Stout tanzte den Kapitän mit einer Wildheit und aggressiven Energie, dass einem beim langen bestechenden Ehestreit-Pas de deux angst und bange wurde um die Gesundheit seiner Partnerin Tsygankova.
Es folgt Haris steile Karriere als exotische (Nackt)tänzerin – wie eine erstklassige Primaballerina die Tanzamateurin Mata Hari tanzt, gehört zu den unbeschreiblichen Besonderheiten dieser Choreographie! – mit phänomenalen Erfolgen und unzähligen Verehrern um die halbe Welt. Diese Erfolge sind gefolgt von vergeblichen Versuchen, sich als seriöse Tänzerin durchzusetzen (Djagilew weist sie ab, Duncan überflügelt sie) und führen letztlich zu ihrer auch aus Geldnot eingegebenen Tätigkeit als Spionin. Im Finale blüht ihre letzte allumfassende Liebe zu dem russischen Offizier Vadime de Masloff auf, ausdrucksstark und sehr gefühlvoll getanzt von Constantine Allen, bevor ihr tragischer ungerechtfertigter Tod vor dem Erschießungskommando den optisch betörenden Schlusspunkt unter diesen äußerst mitreißenden zweiaktigen Abend setzen.
O’Regan hat mit seiner farbenprächtigen Ballettkomposition ein Panoptikum an musikalischen Stilen umgesetzt. Frankreich, Indonesien, Spanien, Ägypten – zu all diesen Lebensstationen lieferte das Balletorkest das passende akustische Dekor (mit einigen klangvollen Soli des Solocellisten Artur Trajko). Aber erst im viel stärkeren zweiten Akt (Berlin) überzeugte die Musik mit Weill-artigen Klängen und ging unter die Haut. Auch die expressionistische Musik unter den grell choreographierten Soldatenaufzügen trafen den Kern der grausamen Kriegshysterie. Dass O’Regan auch Minimalismus und selbst Anklänge an das Musicalgenre nicht scheut, dafür war ihm nicht nur das auffallend junge Premierenpublikum dankbar.
Selten hat mich ein klassischer Ballettabend so zu Tränen gerührt. War es die wirklichkeitsgetreue Entmystifizierung einer tragischen Galionsfigur, deren Leben und Lieben uns allen Bewunderung abverlangt, aber auch allzu menschliche Themen berührte, die fast jeder kennt? Oder war es „nur“ die Prahl- und Prachtkunst all dieser vorzüglichen Tänzer, die dem Motto zu folgen schienen: Einer für Alle, Alle für Einen. Tsygankovas tiefe Verbeugungen vor der versammelten Compagnie während des zu Recht stürmischen langanhaltenden Applauses ließen am Ende diesen Schluss zu.