Mitten zu der Zeit, da Sir Simon Rattle an der Staatsoper Unter den Linden mit großem Erfolg Mozarts Idomeneo leitet, dirigierte er im fünften Abonnementkonzert der Staatskapelle Berlin Mahlers Neunte, die auf andere Weise Frieden mit der Welt schließt als die Oper.

Simon Rattle dirigiert die Staatskapelle beim Abonnementkonzert in der Staatsoper Unter den Linden
© Peter Adamik

Eröffnet wurde der Abend aber mit Harrison Birtwistles Donum Simoni MMXVIII. Diese kurze Fanfare mit ihren schroffen Blechbläsern, dem heftigen Klappern und Klirren des Schlagzeugs (samt Holzblöcken) und den empört dazwischen kreischenden Holzbläsern ist als ein Geschenk für den Dirigenten komponiert worden, aber ist sie wirklich ein Porträt Rattles wie zu lesen ist? Wenn in den Schlusstakten allein noch die Tuba zu hören ist, die vorsichtig und schwerfällig in die Tiefe heruntersteigt, dann diente dieses Versinken in die Dunkelheit vor allem als Auftakt zu dem, was danach im Saal zu hören war.

Vorsichtig und tastend ließ Rattle Mahlers Neunte Symphonie beginnen, in der alles ein Werden und Vergehen, ein Erinnern und Vergessen ist. Aus ineinander verschlungenen Motiven entstanden Dialoge zwischen den Orchesterstimmen, und daraus erwuchs eine dualistische Form, die, vor allem wenn so schlüssig und konsequent musiziert wird, ins Staunen versetzt. Nichts wurde anfangs gesetzt oder konstatiert, alles entfaltete sich organisch aus Einzeltönen und Kleinstmotiven. Und doch lehnte sich etwas gegen die sanften Töne auf, etwas, das diese Idylle ernsthaft bedrohte, die Rattle in dem wie aus fernen Zeiten erinnerten Thema zu Anfang vage anklingen ließ und doch unmissverständlich hörbar machte, dass dieses Refugium auf immer verloren ist. Zweimal lugte in der Durchführung aus den Trümmern der Zusammenbrüche das Hauptthema in der Grundtonart hervor, das zweite Mal wie verloren und ganz filigran als Solo von Konzertmeisterin Jiyoon Lee vorgetragen. Wenn das Thema ein drittes Mal in der nun vermeintlichen wirklichen Reprise zu Gehör kam, konnte es sich nur noch in den Schritt des mittlerweile alles beherrschenden Kondukts einfügen, der sich unter Rattles Dirigat über alles hinwegsetzte und so dominant war, dass er nun zu verhindern vermochte, dass sich das impulsive zweite Thema noch einmal, wie zu Beginn, gegen die Idylle durchsetzen konnte. Nun wurde auch dieses vom Unabwendbaren eingesogen und auf vier Takte komprimiert. Danach brach aller Widerstand. Rattle entließ nach diesem Gewaltakt das hochkonzentriert musizierende Orchester „ins Freie“: in ein Duett aus Horn und Flöte, das Hanno Westphal und Claudia Stein wie aus einer anderen Welt herübertönen ließen. In die Coda verabschiedete Claudia Stein dann mit ihrem Flötensolo den ganzen Saal erfüllend die einst so prächtig-leuchtende Schlussgruppe der Exposition in weltverloren Tönen, die nie zu verklingen schienen.

Im zweiten Satz ließen Rattle und die Staatskapelle die Symphonie „etwas täppisch und sehr derb“ ins Leben zurückkehren: Die drei Tänze gingen aufeinander los, fanden nie recht zusammen. Die daraus entstandene Collage geriet in meinen Ohren zu einer Erinnerungsmusik, in der all die anderen Scherzos, die Mahler zuvor komponiert hatte, noch einmal vorbeirauschten, um ihr Lebewohl zu sagen. Wie das zweite Thema im ersten Satz, so lehnte sich in der in dieser Aufführung als Verzweiflungsstück aufgefasste dritte Satz, die Burleske, nun gegen die Vergänglichkeit insgesamt auf. Nach einem irrwitzigen Fugato zog Rattle im Orchester den Vorhang auf und gewährte den Ausblick auf das Doppelschlag-Motiv des Final-Adagios. Noch einmal stemmte sich das Orchester mit den Harlekinen der Holzbläser gegen die Vorahnungen des Endes, verzerrten schrill die Vorausweisung und rafften alle Kraft zu einer Schluss-Stretta auf, in der Rattle, nun ein letztes Mal an diesem Abend, alle Puppen tanzen lassen durfte.

Den Abschied des Finales musizierte das Orchester im großen Ton. Rattle erhob die Erinnerung an das Lied von der Erde zur Schlüsselstelle des ganzen Satzes, nach der ein lieto fine unmöglich geworden ist. Das Glissando in der letzten Variation schnürt allem Singen den Atem ab, ließ alles in sich zusammensinken und schließlich langsam die Klänge, Motive und Einzeltöne in das Nichts vergehen, aus dem es zu Beginn entstanden war.

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