Dass eigentlich vertraute Theaterstoffe aufgrund markentingpraktischer oder äußerlich passender Erwägungen wechselnden Titeln unterworfen waren, ist bekanntlich nicht neu. So auch bei Lullys Vertonung der Saga Medeas, die wegen der Kriegsumstände Ludwig XIV. den Namen ihres bis zum letzten Akt für König Aigeus als heroischer Mister X erscheinender Beinahe-Stiefsohns und -Geliebten Theseus erhielt. Im Gegensatz zu manch anderen Werken sind Lullys Opern jedoch an sich noch weitgehend unbekannt, wie – bei allen Kostenfragen, aber das betrifft ja auch viele andere – weiterhin verwunderlich, bedenkt man dessen und deren Stellung und Einfluss in der Geschichte, den Umfang und das Erstarken der sogenannten Alten Musik generell! Glücklicherweise liegen vereinzelt Einspielungen der letzten Dekaden vor, denen beständigere, aber je meistens zwei- bis dreimalige Live-Aufführungen in Paris oder Versailles, Boston und Wien voraus- oder nachgingen. Am eifrigsten erwies sich beim Aufblättern Lullys Katalogs Christophe Roussets Ensemble Les Talens Lyriques mit dem ihm verbundenen Chœur de Chambre de Namur, die zusammen mit namhaften, ebenfalls spezialisierten Solisten in Brüssel im Rahmen des Klarafestivals unter dem Motto „become music“ nun endlich eine Gelegenheit boten, Thesée selbst erstmals und an einem weiteren Ort direkt besser kennenzulernen.
Allerdings ohne den traditionellen, auf die Umstände künstlerisch anspielenden Prolog Philippe Quinaults, der weichen musste wie die Partie von Tenor Robert Getchell, welcher wiederum nur in der den (französischen) Herrscher lobenden Finalszene der von Minerva beschützten und beglückten Untertanen miteinstimmen durfte. Dafür in den fünf Akten der Tragédie lyrique mit einer attacca-fließenden, eleganten, würdigen, kontrollierten und fast unvergleichlich spieltechnisch bindenden Klanglichkeit von LTL, die einerseits überragende Récits ermöglichte und mit den Solisten garantierte sowie andererseits wunderbar extrem mit den bulligeren Fanfaren, kurzen Märschen und Schlachtrufen der Krieger kontrastierte. Solche warfen die legendäre Marie-Ange Petit an ihren Kesselpauken, die vorzügliche Trompette naturelle und bohrgelochte Tromba sowie der wie stets von mitsingendem Thibault Lenaerts einstudierte Kammerchor mit immens gerüsteter Erfahrenheit, militärisch autoritärer Straffheit und rigoroser Diktion, Agilität und Stimmstärke in den Saal, so dass Schwert und Schild auch ohne Requisiten bestens sichtbar wurden. Für jenen Eindruck verzichtete Rousset zudem auf die in französischer Barockmusik typischen Triller am jeweiligen Schlussakkordende, indem er sie anstelle derer in kalkulierter Heißspornigkeit abreißen ließ.
Rousset griff – wie üblich – im Laufe der Aufführung manchmal selbst zu den Tasten des Cembalos, an dessen zweitem Hauptexemplar (und Truhenorgel) ansonsten Korneel Bernolet saß, der zusammen mit seinen herausgehobenen Talens-Lyriques-Continuopartnern an Cello (Emmanuel Jacques), Bassgambe (Isabelle Saint-Yves) und Theorbe (André Henrich) eine phänomenal abgestimmte Arbeit ablieferte. Besonders das aufgemachte Affekt-Fass an unfassbarer Tragik gestalteten sie höchst versiert und einfühlsam als Begleiter auf dem zwischenmenschlich-familiären Schlachtfeld der mythologischen Lebensreisestation Médées. In der Handlung um das Verlassenwerden Medeas vom nächsten König (Ehemann Nr. 1 samt Kinder hatte sie bereits getötet) waren derer drei, ja fünf tatsächliche Begleitungen vokalsolistisch in Erscheinung getreten. Angesprochene Minerva, die Bénédicte Tauran mit ganz leicht trockenerem Einschlag, aber himmlisch abgeklärt verkörperte; Cleone, eine mit Marie Lys' warmem, schmückendem, auch im tiefen Register gutliegendem Sopran bestimmte, bestimmende, ebenfalls auf ihr Partnerglück bedachte Macherin und Vertraute von Theseus-Schatz Aigle; den von ihr auf die Probe gestellten, königspflichtigen Diener und Berichterstatter Arcas mit betörend timbriertem, ohne Druck aussingendem, weichem Bariton Guilhem Worms; Thaïs Raï-Westphals Dorine als tonal umsichtige, angenehme, schmeichelnde Besänftigungsfigur; und eben Médées herbeigerufene Foltergeister in Form der Herren des CCN mit monstergenialen Betonungen und artikulierten Ausfälligkeiten.
Diese pflanzten sich ins Ohr Æglés, deren Verständlichkeit nicht vortrefflicher sein konnte als durch die klarste und geschmeidigste Sopranexposition Deborah Cachets. Nicht nur wurde sie von Medea in ständige Verzweiflung und von König Aigeus als neues Objekt der Begierde in nötige Verlegenheit zum aufgelösten Widersacherkonflikt hinsichtlich Vater-Sohn-Wiederbegegnung gebracht, sie stürzte sich ganz selbst organisch mitgehend in die belebenden Rezitative und eindrucksvoll schmächtig in die Treueschwüre zu Thésée. Den bespielte Mathias Vidal mit seinem typisch leidenschaftlichen Hyperaktivismus-Tenor, der trotz Überschwangs keine Härte in sich und neben zwangsläufiger Rezitativfrische dafür einen Köcher voller dramatischer Artikulations- und Aufrichtkeitspfeile auf seinem Rücken trug. Ganze Zeit unbekannten Papi, nachher gütigen In-spe-Vermacher und aus einsichtiger Liebe zurücksteckenden Ægée stellte Philippe Estèphe dar, der mit hohem Bariton die Durchhalte-Moral sprach, Schrecklichstes Durchzustehen, um Schönstes zu ernten, und zuvor entschlossen, gewandt seinen Frauentausch hin zu Prinzessin Aigle begehen wollte.
In aller beherrschenden Wut und dann zupasskommender Ausnutzung über diesen im ernsten Schwärmen für Theseus rang Médée in persona Karin Deshayes theatralisch dazu mit ihren Schicksalen. Sie tat das sehr edel, rund und ausgewogen sowie mit dunklerem Schimmer als wahrnehmbare Bürde ihres Bewältigungs-, Gefühls- und immer wieder vorgetäuschten, letztlich doch zerstörerischen, sich und deshalb andere geißelnden Kränkungsmanagements. Insgesamt also eine reife Leistung mit vielen Elementen beachtlichen Seltenheitswerts, genauso wie noch Lullys Opern heutzutage, die mal wieder und noch dazu so konsistent flüssige Musik wurden.