Mögen andere Opern in Bayreuth derzeit im täglichen Rhythmus Sänger oder gar Dirigenten wechseln: völlig unbeeindruckt davon legt die Mannschaft mit der Lohengrin-Ladung im Hafen von Brabant an. Für Dirigent Christian Thielemann ist es die letzte Wagner-Oper zu einem neuen Rekord: alle im Kanon der Bayreuther Festspiele aufgeführten Werke Richard Wagners hat er nun dort geleitet. 2015 hatte er sogar die Funktion des Musikdirektors der Festspiele übernommen. Zeitgleich zur Nichtverlängerung dieser Bestallung 2019 kommen verstärkt junge Künstler, wie Oksana Lyniv oder Cornelius Meister, zum Einsatz im legendären Orchestergraben mit seinem hypnotischen Zauberklang.
Durchaus ungewöhnlich der Beginn des Opernabends: wenn anderswo in der Ouvertüre bereits umfangreiche Vorgeschichten erzählt werden, belibt im Bayreuther Lohengrin der Vorhang geschlossen, nachdem das Licht dezent gedimmt wird. Und Thielemann ließ die Violinen so unfassbar leise einsetzen, dass im hinteren Parkett noch Sekunden danach Besucher ungestört fachsimpelten. Völlig ohne Verzögerungen blühte das Geigenthema auf, kamen klanggesättigter Bläserchoral, herrlich melangierte tiefe Streicher hinzu, in dichtem Legato ruhiger Beständigkeit eines breiten Stroms, der Schelde vielleicht. Dieses Auskosten von Klangnuancen, Beschreiten schwereloser Melodiebögen, wie kein anderer kennt Thielemann das Ansprechen der Grabenakustik, und mit dem bestens korrespondierenden Festspielorchester inszenierte er schon in der Einleitung ein atemberaubendes Hörspiel. Das lieben die Hörer im Festspielhaus an ihm, darin ist er seit Jahren unübertroffen.
So dicht wie die Akkorde des Orchesters wird von dieser Inszenierung auch die überdimensional großformatige figurative Malerei von realistischer Landschaft im Gedächtnis haften bleiben. Sie umgibt den Rundhorizont des Bühnenraums, schließt die Akteure oft noch durch Projektion auf einen dunklen Portalschleier völlig ein. Neo Rauch und seine Gattin Rosa Loy, beide Maler und Hochschullehrer an Leipziger Kunst-Akademien, möchten Gemälde und Bühne wie ein Märchen mehr „erlebt“ als „verstanden“ wissen, suchen die Handlung im zeitlichen Raum zwischen gestärkten Kragen eines Anthonis van Dyck und neoromanischer Industriearchitektur des frühen Elektrifizierungs-Zeitalters zur Entfaltung zu bringen. Das sind die in vielen Schattierungen blauen Meeresstimmungen, wie in schweren Ölfarben holländischer Maler gesehen, und die von einer ausgefeilten Lichtregie (Reinhard Traub) in den Fokus gerückten Sänger; das ist auch Ursprung des symbolisierten Umspannhäuschens, das im Laufe der Aufzüge gedreht und Sammlungsort der Brabanter, Portal der Kathedrale zur Eheschließung und Elsas Schlafgemach werden kann.
Der Elsa rettende Lohengrin kommt in Jeans und Jacke blasser Blaufärbung, sein Schwert ein silbriger Zackenblitz; und unter Stromspitzen, die wie weißes Licht durch Leitungen jagen, landet er mit einem weißen Fantasiegefährt, angesiedelt zwischen stilisiertem Schwan und intergalaktischem Raumschiff. Für den israelischen Regisseur Yuval Sharon soll Lohengrin für Energie sorgen, Erleuchtung bringen in die düstere Welt, deren Blautöne eher abweisend kalt sind und für Tradition stehen.
Die Haupthandlung der Oper sieht Sharon in zwei Befreiungen Elsas: die aus akuter Lebensgefahr in Folge von Telramunds und Ortruds Vorwürfen, aber noch mehr die von Lohengrins unmöglichen Erwartungen. Elsa wagt sich allmählich von Lohengrin zu emanzipieren, lernt gar von der Intrigantin Ortrud, ihre Zweifel offen auszudrücken. Lässt sie sich im zweiten Akt noch von Lohengrin in eine Position drücken, zu ihm aufschauen zu müssen, dominiert sie am Ende aufrecht im zum Blau komplementären Orange ihrer Schlafkammer, während Lohengrin zusammenbricht und am Boden von seiner Herkunft erzählt.
Am Ende bleiben beide Frauen am Leben, während Lohengrin abreisen muss. Elsas verschollener Bruder Gottfried erscheint wieder, wie eine neue grün leuchtende Perspektive; ob das Leipziger Ampelmännchen da Pate gestanden hat? Die Flut der Bilder und Symbole ist überbordend, die Gemälde zwischen Traum und Realität lebendig und höchst eindrucksvoll, engen das Spiel der Beteiligten auch ein, wie in Elsas und Ortruds Diskurs im zweiten Aufzug. Leider erstarren damit viele Szenen in eher statuarische Tableaus, wirbelt nur wenig Wind am Ufer der Schelde.
Der klare, fast unwirklich sanfte Stimmstrom von Klaus Florian Vogt schwebte über allem. Von Lohengrins Ankunftsszene bis zur Gralserzählung hatte sein Gesang Luftigkeit und lyrische Entrücktheit, konnte aber auch bestimmende Forderung ins Frageverbot kleiden.
Camilla Nylund war eine stimmlich wie schauspielerisch imponierende Elsa von Brabant, mit geheimnisvoll leuchtender, gleichermaßen fragiler und stolzer Aura, der man den erwachenden Emanzipationsdrang abnahm. Sie gestaltete klug und intonierte mitreißend in jugendlichem Glanz ihres Soprans.
Was ihre rachsüchtigen Gegenspieler angeht, so zeigten Martin Gantner als grübelnder Telramund und Petra Lang als furienhafte, neidische Ortrud ebenso große klangliche wie darstellerische Ausstrahlung, wenngleich Lang die Dramatik ihres Hasses streckenweise im Forcieren suchte.
Dass Texttreue und edle Klanggestaltung sich nicht ausschließen, zeigte einmal mehr Georg Zeppenfeld als König Heinrich, in einfühlsamen Piano-Nuancen wie bestimmendem Befehlston. Auch beim fulminanten Derek Welton als Heerrufer blieben keine Wünsche offen.
Zu Recht berühmt und immer wieder beeindruckend war der höchst präsente Festspielchor (Einstudierung Eberhard Friedrich), insbesondere seine Mannen, die in dieser Wagner-Oper bekanntlich fast solistische Dauerleistungen zu erbringen hatten! Das Festspielorchester erwies sich bei allem süffigen Klang als flexibel agierendes Ensemble, folgte Thielemanns behutsamen Tempi mit wundervoller Gestaltungskraft. Selbst wenn dadurch einige Längen noch ausgedehnter wurden, gaben sie dem Ausleuchten der Seelenzustände der Figuren Entwicklungsraum.