Es ist eine Programmfolge, wie man sie sich öfter wünscht: kein plakativ dominierendes Thema des Abends, und doch pulsierten wie in vielfältigen arteriellen Verbindungen Ströme voll vitaler Energie, fühlte man wie auf weichem Waldboden ein verstecktes Wurzelwerk als beziehungsreiches Geflecht. Da steht Liszts Hunnen-Schlachtengemälde neben der „Kriegs-Symphonie“ des Wahlamerikaners Strawinsky aus dem Jahr 1946, Adès' neues Klavierkonzert ebenso kraftvoll zwischen zwei Titanen der Klavierliteratur. Und wenn Musik von einem Dirigenten aufgeführt wird, der selbst auch Komponist und Klaviervirtuose ist, hat dies offensichtlich nur Vorteile.
Thomas Adès, 1971 in London geboren, machte bereits als Siebzehnjähriger mit seinen Five Eliot Landscapes auf sich aufmerksam. In Ungarn wurde er später Schüler György Kurtágs. Er entwirft eine Klangwelt, die ebenso aufregend wie individuell ist, deren Originalität keineswegs auf Experimente verzichtet, ohne sich an progressive Neotonalität anzubiedern oder in redselige „Schmelztiegel”-Polystilistik abzugleiten. Sein Orchesterstück Asyla leitete bereits 2002 Sir Simon Rattle bei seinem Antrittskonzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
Durch Originalität bestach auch der Auftakt: Ludwig van Beethoven schwebte 1809 ein universell einsetzbares Orchesterstück vor, in ersten Skizzen notierte er „Overture zu jeder Gelegenheit – oder zum Gebrauch im Konzert”. Zur Namensfeier nannte er sie 1814, als sie zum Namenstag des österreichischen Kaisers Franz I. vollendet werden sollte. Das Anfangsthema beschäftigte Beethoven schon länger, Jahre später wurde es in seiner Neunten Symphonie Teil von Schillers Ode an die Freude. Mit wuchtigem Streichertutti ließ Adès das Orchester einsetzen, den wie verspätet nachschlagenden Blechbläser-Akkord bewusst wie ein keckes Ausrufezeichen mancher Knorrigkeit des Komponisten aufblitzen. Ein schönes Hörnerquartett öffnete Ahnungen Mendelssohnscher Naturwonne, bis nach knapper Durchführung die Reprise in strahlendem C-Dur abschloss.
Mit der europäischen Erstaufführung von Thomas Adès' Konzert für Klavier und Orchester hatte das Gewandhaus einen echten Coup gelandet: erst Anfang März war das Auftragswerk vom Boston Symphony Orchestra sowie Adès und Kirill Gerstein aus der Taufe gehoben worden. In seinen drei Sätzen (Schnell-Langsam-Schnell) erinnert es an die berühmten Konzerte der Romantik, fährt neben reicher Streicherbesetzung eine gewaltige Klangkulisse auf mit dreifach besetzten Holzbläsern, vier Hörnern, Trompeten, drei Posaunen und breitwandigem Schlagwerk wie Gongs, Xylophon, Marimba und Tamburin.
War Beethovens Ouvertüre durch den Nachschlag geprägt, beginnt Adès' Konzert mit einem markanten Pauken-Vorschlag, dem ein einprägsames dreitöniges Motiv im Klavier folgt, dann von Tutti übernommen wird. Es hat Ohrwurm-Potential, wird durch die Orchestergruppen weitergereicht, von Kirill Gerstein in stupender virtuoser Manier in vielen Facetten hinterfragt und aufgeschlossen. Ein romantisches Streicherthema bringt Besinnung ins Allegramente, bereitet eine geradezu traditionelle Solokadenz des Pianisten vor. Da darf man an die Gefühlswelt eines Liszt denken, an die Motorik von Strawinsky, aber auch den Minimalismus eines Adams oder Jazz-trunkene Anklänge von Schostakowitsch. Adès' Andante Gravemente birgt den Ernst eines Trauermarsches, tröstet mit schlichter Choralmelodie. Es öffnet eine individuell bizarre Klangwelt, wenn Gong- und Tam-Tam-Töne sich wie Obertöne in den Klavierklang einmischen, schwingen und vibrieren, geradezu Schwebungen erzeugen. Das wurde diffizil zwischen Gerstein und den Orchestersolisten geformt; da wurde kein präpariertes Klavier vorgeführt, sondern minutiöses Finger- und Handwerk an klassischen Instrumenten. Auch das abschließende Allegro giocoso ist voll von Adès' individueller Handschrift: das ursprüngliche Motiv erscheint wieder, kontrapunktischer Streit zwischen Tonarten; Streicher rutschten glissando durch Tonarten, denen Gersteins sonst vortrefflich überwältigende Klangrede bewusst holprig und unausgeglichen hinterhersprang. Ein Schlag auf die große Trommel über murmelndem tiefem Orchesterbrummen setzte den Schlussklang. Die einhellige Begeisterung des Leipziger Publikums bewies, dass dieses fantastische Konzert schnell auf die Programmzettel weiterer Orchester kommen wird.
Es sollte nicht das einzige Highlight dieses Abends bleiben: schon die ersten Takte von Franz Liszts Hunnenschlacht machten klar, dass Adès wie ein Klangregisseur die Leipziger Orchestermusiker ins philharmonische Schlachtengetümmel schicken würde. Liszt hatte sich 1857 von Wilhelm von Kaulbachs monumentalem Historiengemälde inspirieren lassen: seine bildlichen Lichtströmungen der dunkel-gequälten asiatischen Horde gegen die verklärend-strahlenden christlichen Kreuzeskämpfer übersetzten sie in ausdrucksstarke orchestrale Farbgewitter. Das imitierte die überwältigende Größe des Freskos, ließ die Krieger aus Choralmelodien Kraft sammeln. In teils schlank federndem, dann zwischen Streichern und Bläsern aufgerautem und ausbalanciertem Klang überstrahlten am Schluss die Siegesfanfaren, denen der finale Orgelakkord wie eine göttliche Zustimmung nachklang.
Kriegserlebnisse haben auch die 1945 entstandene Symphonie in drei Sätzen von Igor Strawinsky geprägt. Er ließ Teile eines früher geplanten Klavierkonzerts einfließen, integrierte vor dem Hintergrund klassisch-westlicher Musiktradition und mit ironisierender Lust an der Irritation die unterschiedlichsten Idiome royaler Barockconcerti bis zur Zirkuspolka in seine Musiksprache. Das Orchester glänzte wiederum, wenn im ersten Satz Jazzklänge über ostinaten tiefen Streichern wehten oder im Andante rossinianische Streicherklänge zwischen schönen Flöten- und Harfensoli. Kriegserinnerungen und grelle Marschrhythmen der Blechbläser prägten das Con Moto, ein skurriles Zwei-Fagotte-Concertino dazu, gefolgt von einem preußischen Fugato für Posaune, Klavier und Harfe. Ein überreicher Ideenreichtum faszinierte bis zum schroff aufgereckten fortissimo-Schlussakkord: symptomatisch für das kämpferische Element im Konzertabend, das seidige Adagioseligkeit eher selten zuließ.