Er wird bereits als neuer Simon Rattle gehandelt: Robin Ticciati. Rein äußerlich sind gewisse Ähnlichkeiten nicht von der Hand zu weisen. Ticciati ist wie Rattle Engländer. Beide hatten Schlagzeugunterricht, bevor sie zum Taktstock wechselten. Vor allem aber haben beide Dirigenten bei ihren Amtsantritten in Berlin euphorische Aufbruchsstimmungen erzeugt. Rattle begann 2002 bei den Philharmonikern, Ticciati ist seit dieser Spielzeit Chefdirigent und künstlerischer Leiter beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Gerade absolvierte er gemeinsam mit seinem Orchester die erste Deutschland-Tournee. Mit Solist Christian Tetzlaff ging es nach Hamburg, Essen und – als Tourstart – in die Alte Oper Frankfurt.
Dass Ticciati mit Rattle auch eine Vorliebe für zeitgenössische Klangsinnlichkeit teilt, bewies das Eröffnungsstück des Abends. Der Finne Magnus Lindberg stand auch bei Rattle einige Male auf dem Programm der Berliner Philharmoniker. Ticciati brachte mit dem DSO Lindsbergs Chorale von 2002 zur Aufführung. In dem neoromantischen Werk ist der Bach-Choral Es ist genug allgegenwärtig, angereichert jedoch mit Dissonanzen und Düsterkeit. Ticciati zeigte, wie ernster Klang gehen kann ohne die melodische Linie aus den Augen zu verlieren.
Weit entfernt vom Kitsch war auch das Violinkonzert in d-Moll eines anderen Finnen – Jean Sibelius. Bereits im ersten Satz, in äußerst sportlich genommenen Tempo, wurde klar, dass Christian Tetzlaff zuspitzt, wenn nötig auch ruppig-herzhaft. Bei ihm übernahm Intensität die Bogenführung, ein ums andere Mal auch auf Kosten der Intonation – ihm schien es gleich zu sein, denn Tetzlaff will nicht gefallen. Seinem Adagio erlaubte er nur das allerwenigste Vibrato; seine Solopassagen wurden zu dramatischen und agitatorischen Wagnissen.
Volles Risiko braucht volles Vertrauen und Tetzlaff wusste, dass er sich auf ein sensibel ausbalanciertes Orchester verlassen konnte. Das aufmerksame DSO schaffte mit rundem Klang einen reizvollen Kontrast zum ungebändigten, beinahe brachialen Solopart. Dass damit unter anderem der Einstieg in den spritzigen Schlussatz verrutschte und sich über mehrere Takte etwas mühsam zusammenholpern musste, brachte Tetzlaffs Risikofreude mit sich. Sicherlich ist bei einem derart vielstrapazierten Konzertstück etwas Irritation nicht verkehrt. Eventuell einen wutstampfenden Fußtritt zu weit trieb es Tetzlaff dabei allerdings.
Höhepunkt des Abends nach der Pause war Bruckners Sechste Symphonie. Sie ist weder dessen beliebteste noch längste und eher selten gespielt. Die zwischen 1879 und 1881 entstandene Sechste ist das erste seiner symphonischen Werke, das Bruckner nicht revidiert hatte. Der Komponist war selbst sein größter Kritiker, ein unermüdlicher Zweifler. Kaum wiederzuerkennen war dieser Charakterzug des Komponisten in Ticciatis hochtouriger, lebensbejahender Interpretation; erfrischend wenig von Bruckners Grübelei und Ehrfurcht blieb hier übrig. Gleich der Kopfsatz stürzte sich frontal nach Vorn und in die Vollen. Hier bewies der Dirigent wiederrum seinem Orchester volles Vertrauen. Das sparsam-elegante, tänzerische Dirigat schaffte Transparenz und klanglichen Freiraum. Stets hatte Ticciati dabei sein engagiertes Orchester im Griff und alle Akteure wirkten bestens eingespielt. Feinsilbrige Holzbläserklänge, kernig-vollmundiges Blech und schnittige Streicher fügten sich organisch zu einem bestechenden Gesamtklang, der die gesamte Symphonie hinweg belebt und beweglich blieb. In großen, flüssigen Bögen erklang das Adagio und auch wie aus einem Guss entspann sich der Schlusssatz. Weniger der überraschende Augenblick als die natürlich erwachsende Bewegung standen in Ticciatis Klangbild im Vordergrund. Die Interpretation wurde mitreißend, wenn sich der musikalische Fluss ins Unendliche steigerte. Genau so, wünscht man sich, möge das DSO noch eine ganze Weile weitermusizieren!