Lew Tolstois Krieg und Frieden: es ist ein gigantisches Werk, das sich Sergej Prokofjew, von seiner Emigration nach Amerika zurückgekehrt, 1940 zur Komposition in Russland vorgenommen hatte. Im gemeinsam mit seiner zweiten Frau Mira Mendelson entworfenen Libretto blendet Prokofjew große Teile der ersten beiden von vier „Büchern“ von Tolstoi aus; die Opernhandlung setzt also im Vergleich mit dem Roman relativ spät ein. Wesentliche Handlungsstränge wie den historischen Sieg 1812 gegen die französische Armee Napoleon Bonapartes oder Szenen der Adelsfamilien des 19. Jahrhunderts wurden im vierten Entwurf schließlich in dreizehn Bildern konzentriert. Hinzugefügte Chorgesänge, vor allem im zweiten Kriegs-Teil, waren natürlich ein Schachzug, dem heimgekehrten Komponisten das Wohlwollen der sowjetischen Machthabenden zu sichern.
Erstmals steht das monströse Werk mit seiner beeindruckenden Musik auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper; immerhin hatten bayerische Musikliebhaber vor fünf Jahren bereits in Nürnberg eine großformatige, geschichtlich gut eingeordnete Inszenierung von Jens-Daniel Herzog unter Joana Mallwitz' famoser musikalischer Leitung erleben können.
Dass 2022 der russische militärische Angriff auf die Ukraine fast zum vorzeitigen Ende der Planungen in München führte, bestätigt Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski ebenso wie Regisseur Dmitri Tcherniakov. Jurowski wurde in Moskau geboren, die Familie seiner Mutter stammt aus der Ukraine; und er hat sich schon früh deutlich gegen diesen Angriffskrieg ausgesprochen. Zum Ausweg wurde eine Fassung, die sich auf die Protagonisten Natascha Rostowa, Andrej Bolkonski und Pierre Besuchow konzentriert und in der das kriegerische Geschehen nur eine – wenn auch lautstarke – Kulisse bildet. Im Kriegsteil wurden alle Bilder stark gekürzt, gerade in den nationalistischen Texten der Chorauftritte; auf das zehnte mit dem sowjetischen Kriegsrat wurde komplett verzichtet. Nur die intime Sterbeszene von Andrej blieb unangetastet.
Ursprünglich für zwei Abende gedacht, beschrieb bereits Prokofjew, welche Szenen an einem Spielabend wegfallen könnten. Als grandioses Chorfinale hatte er den siegestrunkenen Schluss des Werks komponiert; in München entschied sich das Leitungsteam für ein wortloses Finale, sprachlos angesichts des politischen Umfelds. Zu den letzten gesungenen Worten gehört Pierres Monolog, in dem er das Geschehene zu verstehen sucht. Darin spiegelt sich auch Tolstois humanistische Grundeinstellung, die den Krieg eigentlich ablehnt. Die finale Musik spielt nun ein Blechbläser-Ensemble, das das martialisch monströse Machtspiel schließlich erdet. In dieser Fassung findet sich auch die multikulturelle Sängerschar wieder, die großenteils aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stammt.
Tcherniakov inszeniert die Oper in Art eines Sozialexperiments im geschlossenen Raum. Als Kunstgriff nimmt er dazu einen historischen Ort, die detailgetreue Kopie eines geschichtsträchtigen Saals im Haus der Gewerkschaften in Moskau. Alle Akteure sowie der Chor sind fast immer präsent, in unauffällige Alltagsklamotten gekleidet (Elena Zaytseva). Sie lagern dort auf Feldbetten, Matratzen, Klappstühlen und Decken; wie verloren am Rand Klappsessel aus einem alten Kino. Kyrillische Spruchbänder zwischen klassizistischer Säulenarchitektur. Dutzende glitzernder Kronleuchter können pompösen Glanz ausstrahlen, im Kriegsteil dann, mit schwarzer Gaze verhängt, nur die düster drückende Stimmung unterstreichen. Ein Prokofjew wie in Filmmusik, nur dass Fokus ins Detail und Totale im Gesamtbild gleichzeitig verwoben einwirken.
Assoziationen dazu drängen sich auf: Schutzsuchende in einer U-Bahn-Station? Wartende Flüchtlinge an einem Grenzposten? Entwurzelte Menschen in einem Kampfgebiet? Virtuos dirigiert Tcherniakov die oft soghafte Bewegung der vielen Akteure. Selbst die aristokratischen Szenen der ersten Bilder funktionieren in dieser Verfremdung, die zur schrillen Zuspitzung wird. Andererseits kann man die französischen Soldaten, deutschen Offiziere oder russischen Adligen später kaum auseinanderhalten, bei fast 60 besetzten Rollen für die Zuschauer eine Herausforderung. Weniger Deutung trägt der Saal im naturalistischen Umfeld des kriegerischen Teils bei: gewalttätige Übergriffe und standrechtliche Erschießungen fordern starke Nerven; etwas Humor zumindest, wenn plündernde Franzosen gerade Gemälde von Prokofjew und Shostakovich wegschleppen.
Besonders im ersten, friedlichen Teil im Mittelpunkt: das Drama der jungen, schönen Natascha, die vom scheuen Fürsten Andrej erobert wird; herrliche Walzerszenen des Glücks, das nur kurz währt. Nach Andrejs Abreise fällt sie während einer wilden Party auf den Herzensbrecher Anatol herein, will sich gar von ihm entführen lassen. Graf Pierre Besuchow, Nataschas väterlicher Freund und selbst romantisch in sie verliebt, vertreibt Anatol und seine Kumpanen; trotzdem löst Natascha die Verlobung mit Andrej.
Olga Kulchynska verkörpert wunderbar die unbekümmerte wie die vom späteren Tod Andrejs betroffene Natascha, sang und spielte mit herrlich lyrischem Sopran; sehr locker und leicht die Koloratur eines „Singvögelchen“. Dramatische Spitzentöne in innerem Kampf und anrührend in völliger Hingabe beim sterbenden Andrej, zu Prokofjews trauerndem Todeswalzer. Im Schlussbeifall stand sie in blau-gelb bedrucktem Shirt zu ihren ukrainischen Wurzeln.
Andrei Zhilikhovsky machte einfühlsam den inneren Kampf des Fürsten Andrej deutlich, begeisterte in Euphorie wie Enttäuschung mit vielfarbig dramatischem Bariton auch in hohen Lagen. Mit einem großartigen Psychogramm des Grafen Pierre Besuchow faszinierte Arsen Soghomonyan, dessen lyrisch weiche ebenso wie metallisch kraftvolle Tenorregister sein Rollenspiel krönten. Dass alle weiteren Solisten mit außergewöhnlicher Qualität überzeugten, kann hier leider nur summarisch festgehalten werden.
Wie Vladimir Jurowski die Komposition zu den besten Prokofjews zählt, war seinem souveränen Dirigat anzumerken. Charmante Leichtigkeit stand neben fokussiert drastischen Fortissimo-Ausbrüchen. Das Bayerische Staatsorchester brillierte in allen Gruppen mit wundervoll austariertem berauschendem Klang. Eine Spitzenleistung vollbrachten die Chöre der Staatsoper, denen auch ein gewaltiges Spielpensum mitreißend gelang.
Was bleibt als Statement am Ende bestehen? Betörende Musik als Hoffnung spendende Rettung vielleicht und Tolstois Einordnung 1904, die den Opernabend eröffnete: „Wieder Krieg. Wieder Leiden, unnötig, völlig ohne Grund. Wieder Betrug, Verdummung und Verrohung der Menschen.“