Noch bevor die Musik einsetzt, sieht man über die ganze Breite der offenen Bühne einen Zaun, Blumenkübel in den russischen Farben davor und auf einer Stellwand ein Plakat, mit zwei badenden Männern im Fluss und der kyrillischen Aufschrift „Woran dein Herz hängt, dort bist du daheim”. Doch die Idylle ist trügerisch, ja zynisch. Zaun und Fluss sind vor allem Symbole für die schreckliche Tragik, von der die Titelfigur in Leoš Janáčeks Oper Katja Kabanova zerstört wird. Hinter dem Zaun nämlich ist in diesem hinterwäldlerischen Dorf die individuelle Freiheit eingesperrt, jedenfalls für die junge Katja, und in der Wolga wird sie sich am Schluss das Leben nehmen.

Corinne Winters (Katja) und Elmar Gilbertsson (Boris)
© Martin Sigmund

Das Produktionsteam um Bert Neumann (Bühne), Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie und Dramaturgie) und Nina von Mechow (Kostüme) hat in Stuttgart die Oper genau dort verortet, wo das zugrunde liegende Schauspiel des russischen Dichters Alexander Ostrowski Das Gewitter, spielt. Es ist eine bittere Abrechnung mit der Engstirnigkeit und despotischen Tyrannei in den Familien des dörflichen Kleinbürgertums im Russland des 19. Jahrhunderts. Die Inszenierung vermeidet jede Parallele zur Gegenwart und hält sich eng an die Vorlage, die der Komponist zu seinem Libretto verdichtet hat. Auf die Zeit nur eines mittleren Wagner-Akts konzentriert Janáček hier das grausame Schicksal einer jungen Frau. Es gibt keine Aktualisierung, aber Rückschlüsse auf ähnlich toxische Gesellschaften in der Welt liegen auf der Hand.

Aus der Zeit Iwan des Schrecklichen stammt das Gebot, wie verheiratete Frauen sich zu verhalten haben: arbeitsam sollen sie sein, die Schwiegermutter ehren und vor allem nicht fremden Männern hinterher schauen. Darauf verpflichtet unter dem Druck seiner herrischen Mutter, der Kabanicha, Katjas Mann Tichon sie, als er zu einer Geschäftsreise aufbricht. Aber Katja hat sich in einen anderen Mann verliebt. Die Situation ist für sie kaum zu ertragen: die häusliche Enge, ihre eigene starke Religiosität und die brennende Leidenschaft in ihr bilden das Konfliktpotential, an dem sie zerbrechen wird.

Ida Ränzlöv (Warwara) und Corinne Winters (Katja)
© Martin Sigmund

Die amerikanische Sopranistin Corinne Winters ist die grandiose Katja in dieser Stuttgarter Wiederaufnahme. Schon in der Abstraktion der Kosky-Inszenierung bei den letzten Salzburger Festspielen hatte sie in dieser Rolle fasziniert. In Stuttgart fügt sie sich nahtlos in die naturalistische Konzeption dieser Produktion ein. Packend spielt sie Katjas Seelennot, wenn sie sich an ihren Mann klammert und ihn anfleht, sie auf die Reise mitzunehmen, da sie genau spürt, dass sie der Versuchung eines Ehebruchs nicht wird entgehen können. In den großen Monologen macht Winters vor allem auch in berührender vokaler Expressivität die ganze Zerrissenheit ihrer Figur deutlich – die Sehnsucht nach Liebe, nach Freiheit, ihre religiöse Verzückung, die an Ekstase zu grenzen scheint und am Schluss ihre einsame Todessehnsucht, weil sie mit der überschweren Last ihres Schuldgefühls nicht weiterleben kann.

Elmar Gilbertsson (Boris) und Corinne Winters (Katja)
© Martin Sigmund

Nachdem Katja unter dem Eindruck eines starken Gewitters, das sie als göttliches Zeichen begreift, ihren Ehebruch gestanden hat, wählt sie die Selbsttötung aus Sühne für diese so empfundene Todsünde. Aber wofür Katja in den Tod geht, danach lebt niemand sonst in ihrer Umgebung. Nach außen heuchelt ihre Schwiegermutter rigoros einen moralischen Lebenswandel, im Verborgenen aber treibt sie es mit dem verheirateten Dikoj, dem Onkel von Katjas Geliebtem Boris. Beklemmend führt die Regie dem Publikum diese Doppelmoral vor Augen. Die Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling singt als despotische Herrin des Hauses so kalt und schroff, dass es einen friert. Grob plärrt sie in der vulgären Liebesszene mit Dikoj, dem brutalen Gewaltmenschen (Patrick Zielke). Musikalische Psychologie könnte nicht eindrücklicher sein.

Ein junges Paar dagegen, Katjas Schwägerin Warwara und Wanja Kudrjasch, lebt seine Liebe unbefangen. Unbekümmert unterlaufen sie die einengenden Regeln und sind am Schluss auch so frei, diesen öden Ort zu verlassen. Für sie hat Janáček den Volksliedton vorbehalten und Ida Ränzlöv und Kai Kluge bringen damit als Einzige so etwas wie Lebensfreude in die Oper.

Corinne Winters (Katja)
© Martin Sigmund

Ganz im Gegensatz zu Katjas Mann Tichon, den Rainer Trost in all seiner jämmerlichen Schwäche überzeugend gibt. Auch Katjas Geliebter Boris ist schwach, setzt sich gegen seinen gewalttätigen Onkel nicht durch. In der Liebesszene mit Katja schwört er, mit ihr bis ans Ende der Welt zu gehen, aber letztlich lässt er sie im Stich. Auch Wanjas Warnungen vor einer Beziehung mit Katja kümmern ihn nicht. Elmar Gilbertsson singt diese Rolle mit großer Emphase und im Liebesduett mit Katja mit lyrischem Schmelz. 

Janáčeks motivisch kleinteilige Musik gestattet Sängern und Orchester hier größere Bögen und weites Ausschwingen. Das Staatsorchester Stuttgart spielt sie großartig aus. Tito Ceccherini sorgt zugleich auch für die Transparenz der Einzelstimmen, die oft nur mit kurzen Akzenten der musikalischen Sprache Ausdrucksstärke verleihen.

Von Janáčeks sieben Opern ist diese wohl die am meisten tragische. Wenn die tote Katja aus der Wolga gezogen wird, würdigt ihre Schwiegermutter sie keines Blickes, während ein chaotischer Orchesterrausch mit einem brutalen Paukenwirbel die Oper beendet. Diese Stuttgarter Produktion hinterließ Beklemmung, auch Trauer und Wut über soziale Umstände, die den Menschen eine freie Entfaltung verwehren. 

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