Bereits die zweite tschechische Oper der Saison stand nun an der Grazer Oper mit Leoš Janáčeks Katja Kabanova am Programm und einmal mehr bewiesen die Grazer Philharmoniker, dass ihnen dieses Repertoire ausgezeichnet liegt. Denn was bei dieser Premiere aus dem Graben zu hören war, kann man schlichtweg als grandios bezeichnen.
Unter Chefdirigent Roland Kluttig wurden die verschiedenen klanglichen Facetten der Partitur wunderschön herausgearbeitet und vom ersten Ton an bestach die Diskrepanz zwischen harscher Realität und sehnsuchtsvollem Gefühl. Zuweilen ließ er das Orchester beinahe süffig romantisch klingen, ohne je zu süßlich zu werden, um es dann wieder kalt und aufwühlend brodeln zu lassen. In diesem mitreißenden Gefühlsstrudel behielt Kluttig die Zügel stets fest in der Hand und sorgte so einerseits für Akkuratesse innerhalb des Orchesters und andererseits für eine ideale Klangmischung von Graben und Bühne.
Ihr Rollendebüt als Katja gelang Marjukka Tepponen exzellent, denn ihre Stimme verfügt nicht nur über lyrische Eleganz, sondern auch über genug Kraft und Volumen für die dramatischen Passagen, sodass sie nie Gefahr lief, forcieren zu müssen. Dabei schaffte sie es stets, der Figur nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich Dreidimensionalität zu verleihen – so ließ sie ihren Sopran gleichermaßen fesselnd in warmen Farben von glühender Leidenschaft und mit silbrigem Ton von unbewältigbaren Schuldgefühlen erzählen.
Ganz den Vorgaben der Rolle entsprechend legte Matthias Koziorowski Katjas Ehemann Tichon als blasses und unterwürfiges Muttersöhnchen an und hielt sich auch stimmlich hörbar zurück, denn sein sonst so strahlender Tenor wirkte ebenso in sich gekehrt wie der Charakter, den er verkörperte. Durch diese Interpretation wurde der Gegensatz zwischen Gatte und Gspusi jedoch ideal verdeutlicht, denn Arnold Rutkowski sparte als Boris nicht mit selbstbewusst leuchtenden Spitzentönen und verschwenderischem Stimmeinsatz, wobei lediglich die gewählte Einheitsemotion den Eindruck etwas trübte.
Für hervorragende vokale Momente sorgte das Paar der Geschichte, dem am Ende der Ausbruch aus der Enge der Gemeinde gelingt: Mareike Jankowski ließ als Varvara ihren samtigen Mezzo strahlen und versprühte dabei gleichermaßen jugendliche Unbekümmertheit und euphorische Schwärmerei; an ihrer Seite bestach Mario Lerchenberger in der Rolle des Kudrjasch mit idealem Timbre für slawisches Repertoire. Eine einschüchternde Kabanicha verkörperte Iris Vermillion mit starker Bühnenpräsenz, wobei sie stimmlich sowohl mit sinnlichen Klangfarben als auch mit bedrohlicher Bösartigkeit überzeigte. Ungewohnt wenig stimmliche Präsenz konnte am Premierenabend hingegen Wilfried Zelinka als Dikoj demonstrieren, der dafür aber sichtlich Spaß an der Darstellung eines scheinheiligen Popen hatte.
Die Regisseurin Anika Rutkofsky verlegt die Handlung nämlich in eine Kirchengemeinde in der Zeit des Zerfalls der Sowjetunion, als Bühnenbild dient dabei ein Raum, der offenbar gerade wieder vom Hallenbad zur Kirche zurückgebaut wird – so werden Sichel und Hammer vom Fenster gekratzt und durch Heiligenbilder ersetzt, während in der Krypta noch zurückgelassene Schwimmnudeln und Plastikstühle ihr Dasein fristen. Beinahe unfreiwillig komisch wirkt zwischen Kachelfließen und Mosaikfenstern der überdimensionierte Vulva-Vorhang mitsamt Klitoris-Kreuz, der dank Licht- und Anschwelleffekten den jeweiligen Erregungszustand der Titelheldin illustriert.
Überhaupt legt die Inszenierung einen starken Fokus auf (unterdrückte) Lust, denn während tagsüber sittsam gebetet wird, offenbart sich im Schutz der Nacht das Doppelleben der Gemeindemitglieder, die sich – dem Einheitsbühnenbild geschuldet – ausgerechnet in der Kirche zu außerehelichen Schäferstündchen treffen. Dabei scheinen sich alle auf das ungeschriebene Gesetz „Was in der Kirche passiert, bleibt in der Kirche“ geeinigt zu haben; lediglich Katja fällt mit dem Geständnis ihrer Sünde aus dem Rahmen und wird daraufhin symbolisch von der Gemeinde mit Bibeln erschlagen. Diese Umdeutung funktioniert, vorausgesetzt man ignoriert das Libretto, als Metapher für die scheinheilige Gesellschaft noch einigermaßen gut, aber dass Tichon schließlich Kuligin öffentlich küsst und die beiden ebenfalls getötet werden, wirkt dann doch übertrieben. Und so liefert die Inszenierung zwar einige starke Bilder und interessante Ideen, kann aber letztlich nicht in gleichem Maße berühren und aufwühlen wie die Musik.