Langsam hebt sich der rote Vorhang. Dahinter offenbart sich der karge, graue Bühnenraum – die Kostüme sind noch grauer. Kein Wunder, denn Jolanthe ist von Geburt an blind und kann von all dem nichts wahrnehmen. Schlimmer noch, ihr Vater, der König, hat sie an diesem einsamen und trostlosen Ort wegsperren lassen und jedem verboten, unter Androhung der Todesstrafe, von ihrem Leiden zu erzählen. Nur die Fantasie der entrückten Prinzessin, nur ihre Träume, die sind bunt. So farbenfroh und überladen wie ein zuckersüßes russisches Märchen.
Wo anderswo die Ballettszenen aus den Grand opéras gestrichen werden, kleidet Lotte de Beer ihre Inszenierung von Peter Tschaikowskys Einakter Jolanthe durch Szenen aus dem Nussknacker großzügig aus. Eine ungewöhnliche, aber nicht grundsätzlich unstimmige, Idee, die diesen Abend an der Wiener Volksoper, der unter dem Titel Jolanthe und der Nussknacker läuft, zum Erfolg macht.
Doch wer mit Spitzentanz, imposanten Sprüngen, und Tutus gerechnet hatte, der wird enttäuscht. Stattdessen brechen De Beers Schneeflocken die Geschlechterrollen. Wild wirbeln Männlein wie Weiblein über die Bühne und heben keck ihre schirmartigen Papier-Tutus. In Jolanthes Welt spielt die Optik ja keine Rolle. Und so wiegt, windet, schaukelt, und rollt sich das Corps de Ballet barfüßig zu den gängigen Gassenhauern aus Tschaikowskys musikalisch wohl bekanntestem Ballett in großen Aufzügen über die Bühne.
Am Pult steht Omer Meir Wellber, der das Orchester mit ungewöhnlich rasanten Tempi und viel aufbrausender Kraft durch Passagen antreibt, die sonst zum schunkeln, schwofen und mitsummen einladen. Dem sakrosankten Kern des klassischen Balletts so zuzusetzen, ist sicherlich nicht jedem im Publikum ganz recht. Und wer mit aufgeschlagener Partitur auf dem oberen Rängen saß, dem wurde vielleicht gar ganz blümerant.
Stark wird es dann, wenn Wellber dem Arabischen Tanz die Farbe des Kaffees gänzlich entzieht. Ungewöhnlich düster und blass tönen die markanten Holzbläser und stürzen die schummrige Bühne und den Zuschauer gleich mit in den Abgrund. Jolanthe hatte wenige Takte zuvor vom frisch verliebten Graf Vaudermont von ihrem verheimlichten Gebrechen erfahren.
Die Hauptrolle wird von Olesya Golovneva gesungen. Bleibt sie in den ersten Szenen des Abends vielleicht noch etwas farblos, kann sie ihrem technisch durchaus exzellenten Sopran in der zweiten Hälfte der lyrischen Oper dann eher auch die emotionale Tiefe verleihen, die den Zuschauer mit ihr leiden und fühlen lässt. Überschattet wird sie gleichsam von Stefan Cerny als ihr Vater und König. Bis in die Tiefen klar, wohlkonturiert und voller überzeugtem Volumen ist sein Bass, bleibt dabei dennoch wandelbar und vielschichtig.
Georgy Vasiliev kann dem gegenüber das Potenzial seiner Rolle als Graf Vaudemont nicht vollends ausschöpfen. Vielleicht liegt es an der deutschsprachigen Fassung, doch lässt seine Interpretation ein wenig den lyrischen Schmelz und jugendliche Strahlkraft vermissen, die sich auch gegen ein so kraftvoll geführtes Orchester durchsetzen kann.
Ähnlich durchwachsen kann die tänzerische Leistung des Abends bewertet werden. Die imposanten Masken, Kopfbedeckungen, oder raumgreifenden Kostüme kitzeln die Fantasie genau richtig, ohne ins Kitschige abzufallen. Gleichzeitig stellt sich in nicht nur einer Szene dem Zuschauer die Frage, ob das Sichtfeld der Tänzer nicht zu stark eingeschränkt wird.
Ungeachtet solcher Synchronitätsprobleme, bleibt die Choreographie vielschichtig und interessant – eben gerade weil zu bekannten Klängen neues erprobt wird, neues gesehen werden kann und man nicht zum Tanz der Rohrflöten zählt, wie viele Entrechats der Élève schafft und dann begeistert klatscht – wie schon hunderte Male zuvor kurz vor Weihnachten.
Freilich, eine bahnbrechende Neuinterpretation wird hier nicht geleistet. Es bleibt bei einem, wie es im Programmheft heißt, Musiktheater für die ganze Familie. Es ist kurzweilig, unterhaltsam, aber nie langweilig. Und das zeichnet doch einen guten Abend aus?!