„Hallo...“ ruft Chuck Jones mit zaghafter Kinderstimme mutterseelenallein auf der großen Bühne des Niederländischen Tanztheaters in Den Haag. Der hilflos suchende Ruf kommt mehrmals zurück in Marco Goeckes neuem Werk In the Dutch Mountains, seinem ersten abendfüllendes Werk für das NDT 1. Der Ruf steht als Symbol für den Mut von Goecke, sich auf unerschlossenes Gebiet vorzuwagen und mit seinen Bildern tiefere Lagen des Verstehens bei seinem Publikum anzusprechen.

In the Dutch Mountains
© Rahi Rezvani

Mit seinem unverwechselbaren, eigenwilligen Stil gilt Goecke als eine der unverwechselbarsten choreographischen Stimmen der Gegenwart. Er offenbart in einem Interview zu seinem neuen Werk: „Für mich ist der echte Dutch Mountain der Theaterboden. Der Bühnenboden, das ist der holländische Berg, den man immer erklimmen muss, wenn man ein Werk macht." Goecke ließ sich dabei von mehreren Quellen inspirieren, darunter Cees Nootebooms fiktiver Roman In den Bergen der Niederlande und der Song In the Dutch Mountains der niederländischen Band NITS aus dem Jahr 1987, die als Hintergrund für die starke künstlerische Verbundenheit des Choreographen mit den Niederlanden dienen: „Es ist auffallend, wie mein Leben mich immer wieder in die Niederlande zurückgeführt hat. Es zieht mich immer wieder in dieses Land zurück.”

In the Dutch Mountains
© Rahi Rezvani

Goecke arbeitet seit 2008 für das NDT. Er hat in den Niederlanden studiert und viele seiner Choreographien sind hier entstanden. Mit In the Dutch Mountains begibt er sich in mehrerlei Hinsicht auf Glatteis. Zum ersten Mal nämlich choreographiert er ohne eine durchgehende Handlung. Stattdessen sehen wir zu Beginn der 70-minütigen Vorstellung fast alle 27 Tänzer des NDT 1 in kurzen sehr individuellen Soli über den Tanzboden huschen. Ihr überkuppelndes Thema ist die jeweils sehr persönliche Angst: Angst vor Mäusen, vor dem Alleinsein, vor Berührungen oder pures Lampenfieber. Auch kollektive Ängste vor dem Fremden oder den Naturgewalten kommen vorbei, wenn gleich zu Beginn ein ohrenbetäubendes explosionsgeladenes Gewitter aus den Lautsprecherboxen dröhnt.

Goeckes Bewegungsidiom entführt sein Publikum in eine Traumwelt. Durch die Geschwindigkeit seiner kleinen Fuß- und Handbewegungen entsteht ein Oszillieren, das viele mögliche Bewegungen suggeriert, die gedacht, geträumt, gefühlt oder unterlassen sein können. „Entlang dieses Themas der Polarität verlangt Marcos Vision von uns, dass wir uns ruhig fühlen, wenn wir uns wild und hektisch bewegen, dass wir uns ängstlich fühlen, wenn wir stillstehen, dass wir bei romantischen Melodien die Stirn runzeln und bei dramatischen Melodien lachen.“ So beschreibt Tess Voelker die Arbeit mit ihrem Choreographen.

In the Dutch Mountains
© Rahi Rezvani

Als einziges Dekor hängt eine große Leinwand im Bühnenhintergrund mit Filmaufnahmen (Ennya Larmit) von einem dunklen Küstenstreifen mit unruhig (g)rollenden Meereswellen. Als sich davor  gegen Ende des auch lichttechnisch (Udo Haberland) düsteren Abends das gesamte Tänzerensemble wie eine vertraut verbunden zusammengehörige Menschenmasse wellengleich und impulsiv zu bewegen beginnt, erlebt Goeckes leidenschaftlicher Tanzabend seinen unvergleichlichen Höhepunkt.

Zusammen mit seinen Tänzern hinterfragt Goecke im Laufe dieses Abends unsere Einstellung zu Verbundenheit, Vertrautheit und Verwundbarkeit. Ganz im Sinne Brené Browns Kraft der Verletzlichkeit entlässt das NDT 1 seine Zuschauer mit einem kunstvoll kreativem Vorbild zu mehr Mitmenschlichkeit.

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