Idomeneo steht immer noch ein wenig im Schatten der anderen großen Opern Mozarts. Dabei ist das Werk des gerade 25-Jährigen sein erstes wirkliches Meisterstück auf dem Gebiet des Musiktheaters. Unter widrigen Umständen entstanden, zu seinen Lebzeiten kaum ein halbes Dutzend mal aufgeführt, musste sich die Oper später zahlreiche Verschlimmbesserungen durch Bearbeiter gefallen lassen. Erst Nikolaus Harnoncourt rehabilitierte die Oper mit einer Aufführung in der originalen Gestalt der Münchner Uraufführung.

Andrew Staples (Idomeneo)
© Bernd Uhlig

Warum Idomeneo es so schwer hatte im Kanon der Mozart-Opern, mag an seinem Zwitterwesen liegen: dem von der Opera seria geprägten Libretto und der weit über diese traditionelle Form hinausweisenden musikalischen Gestalt – ein überwindbarer Widerspruch, wie die Premiere an der Berliner Lindenoper nun gezeigt hat. Der schottische Regisseur David McVicar hat sich in der Anlage der Szene am klassischen Modell orientiert, während Simon Rattle am Pult das Stürmen und Drängen der Musik grandios herausstellte. Das aufwühlende Drama fand an diesem Abend vollkommen werkgemäß vor allem in der Musik statt. Die Szene dagegen lieferte die meist gemessene und ausgesprochen ästhetische Kulisse.

Idomeneo
© Bernd Uhlig

Das klassische Modell ist hier ein Stoff aus der antiken Mythologie, der Geschichte des kretischen Königs Idomeneo, der auf der Rückkehr vom Trojanischen Krieg in Seenot gerät und dem Meeresgott Neptun gelobt, nach seiner Rettung das erste Lebewesen zu opfern, das ihm an Land begegnen wird. Schrecklicherweise ist dies sein eigener Sohn Idamante. Ein archaischer Konflikt, der von individuell charakterisierten Figuren ausgetragen und im Sinne aufgeklärter Humanität überwunden wird. Kein Deus ex machina führt am Schluss die Erlösung herbei, sondern „nur” eine Stimme von oben verkündet nach der kathartischen Erlösung die neue Zeit. Dies war einer der magischen Momente in dieser Produktion, wenn La voce vom oberen Rang aus Idomeneo zur Abdankung zwingt und Idamante zum neuen König ausruft, begleitet von den feierlichen Posaunen aus der Proszeniumsloge.

Anna Prohaska (Ilia), Magdalena Kožená (Idamante) und Andrew Staples (Idomeneo)
© Bernd Uhlig

Eine Sängerin hat in dieser Aufführung ihre ganz großen Momente: Magdalena Kožená ist an diesem Premierenabend in der Hosenrolle des Idamante die überragende Persönlichkeit. In ihrer Rollengestaltung vereinigt sich alles, was Mozart an Idealismus in diese Figur gelegt hat. Aus humanem Geist heraus befreit der kretische Prinz die trojanischen Gefangenen, empfindsam wirbt er um die Liebe der aus Troja verschleppten Prinzessin Ilia und entschlossen stellt er sich der Befreiung seiner Heimat von der Macht der grausamen Götter. Kožená gestaltete die Facetten dieser Rolle vokal farbenreich und in starker Bühnenpräsenz. Sie setzte alles auf die emotionale Karte, gestaltete eindrücklich den inneren Konflikt, den Idamante nach der freudigen Wiederbegegnung mit seinem Vater erlebt, der sich aber für ihn völlig unverständlich sogleich abwendet, weil er in seinem Sohn das potentielle Menschenopfer erkennen muss. Den Vater gefunden und gleich wieder verloren – diese Arie wurde einer der Höhepunkte von Koženás Gesangskunst an diesem Abend.

Anna Prohaska (Ilia)
© Bernd Uhlig

Als trojanische Prinzessin Ilia war Anna Prohaska völlig rollendeckend eher zurückhaltend und gesanglich überaus lyrisch. Eigentlich müsste Ilia die Griechen hassen, die ihre Heimat verwüstet und ihren Vater ermordet haben und wo sie sich jetzt im unfreiwilligen Exil befindet. Aber zugleich fühlt sie sich zu Idamante hingezogen. In dem langen Accompagnato-Rezitativ gleich zu Beginn der Oper brachte die Sängerin diesen inneren Zwiespalt der Figur zum Ausdruck. Anrührend warb sie um die väterliche Liebe Idomeneos („Se il padre perdei – tu padre mi sei”) und wunderbar ergänzten sich die Stimmen Prohaskas und Koženás im Duett, wo beide sich ihrer Liebe versichern, vielleicht einem der schönsten Liebesduette Mozarts.

Magdalena Kožená (Idamante) und Anna Prohaska (Ilia)
© Bernd Uhlig

Und Idomeneo? Er ist die am meisten erschütterte Figur dieser Oper, denn der Erfüllung seines Gelübdes kann er nicht ausweichen. Vor allem vermag er seinem Sohn gegenüber nicht die Wahrheit zu sagen und verschlimmert dadurch die seelischen Nöte der Anderen. Andrew Stapels blieb aber an diesem Abend in dieser Rolle zu neutral, bewältigte zwar seine Koloratur gespickten Arien souverän, blieb aber im Ausdruck hinter der starken Emotionalität der Partie zurück.

Andrew Staples (Idomeneo)
© Bernd Uhlig

Ganz anders dagegen Olga Peretyatko als Elettra, derjenigen Figur dieser Oper, die noch am meisten den Typen der Opera seria entspricht. Von Idamante verschmäht singt sie furiose Rachearien und selbst wenn es um Liebe geht, wirkt das Bekenntnis gekünstelt. Olga Peretyatko schien dies überpointieren zu wollen, jedenfalls wirkte sie darstellerisch klischeehaft und vokal kalt. Nicht unpassend daher ist hier diese Figur im Kontext des traditionell formalisierten japanischen Nō-Theaters verortet.

Olga Peretyatko (Elettra)
© Bernd Uhlig

So spielt die Regie geschickt mit verschiedenen Stilmitteln, vor allem dem Bild, das wir vom klassischen Theater haben: Kostüme von eleganter Schlichtheit, ein warmes und konzentriertes Licht, moderate Bewegungen der Figuren und der symmetrisch angeordnete Chor mitsamt der herabhängenden riesigen Totenkopfmaske. Zentrale Szenen konnten aber auch dramatischen Furor entwickeln, wie die aufgewühlte Sturmszene des ersten Akts mit der artistisch agierenden 13-köpfigen Movement Group.

Das Wunder aber vollbrachte unter der Leitung von Simon Rattle die Berliner Staatskapelle mit ihrem warmen volltönenden Klang. Vor allem wie Rattle die Übergänge gestaltete, vom Recitativo accompagnato zu Arie und wieder zum Secco-Rezitativ: Das Orchester folgte dem mit Eleganz und Klangschönheit. Schließlich führte der Chor in all seiner Ausdrucksvielfalt das reine Mozart-Glück zur Vollendung.

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