Irgendwie hat es schon Tradition: Wenn eine neue zeitgenössische Inszenierung auf dem Spielplan steht, welche die Grenzen des Librettos jenseits von Reifröcken und gepuderten Perücken auslotet, dann folgt auf den Auftritt von Regie, Kostüm & Co zum Schlussapplaus der ein oder andere Buhruf aus dem Publikum. Wahrscheinlich war einfach mal wieder zu viel Blut, Nacktheit oder ganz allgemein Realität im Spiel.

Tuomas Katajala (Max)
© William Minke

In der Inszenierung von David Marton am MusikTheater an der Wien fehlt davon aber jegliche Spur. Sein Freischütz ist, zumindest was die Bühne angeht, biederstes Biedermeier. Hübsche hochgeschlossene Kostümchen, hübsche Staffagen, hier ein Wäldchen, dort ein Häuschen. Und trotzdem erntet der ungarische Regisseure bereits schon zum Beginn der ersten Pause energische, fast wütende Buhrufe?

Jacquelyn Wagner (Agathe) und Tuomas Katajala (Max)
© William Minke

Was ist also schiefgelaufen? Der Kern des Problems lässt sich wohl auf die Halle E des Museumsquartiers zurückführen, in der das MTaW aktuell gastieren muss. Das Publikum sitzt in einem endlos langen Schlauch und davor klafft die Bühne als offene Wunde aus Traversen, Reflektoren, und Kabelsalat.

Als Mittel der Wahl – oder Qual? – wird deswegen in dieser Saison mit zunehmender Steigerung auf Videoproduktionen und Mikrofone gesetzt. Das war ganz fabelhaft pointiert in Rossinis Diebischer Elster, am Rande des Erträglichen im Belshazzar, doch hier und jetzt, in Carl Maria von Webers Freischütz, wird es fast unzumutbar.

Guido Jentjens (Kuno), Dean Murphy (Fürst Ottokar) und Alex Esposito (Kaspar)
© William Minke

Die ganz Bühne überspannt ein hauchdünnes Projektionsnetz. Die grundlegend durchaus interessante Idee: So lässt sich die Handlung auf der Bühne mit intimen Live-Aufnahmen durch ein Kamera-Team überlagern. Marton will den Fokus ganz auf Agathe und den geträumten Zwiespalt, in dem sie scheinbar gefangen ist, legen. Video-Traumwelt und Wirklichkeit sollen sich dem Betrachter in einem Bild und auf einen Blick offenbaren.

Und so wird das lebensfrohe Ännchen kurzerhand zum doppelten Lottchen – gleiches Kostüm, ähnliche Perücke. Das Zwiegespräch mit der Cousine mutiert zum inneren Dialog, der das befürchtete Drama in der letzten und sechsten Szene vorbereiten soll. Auch Samiel fällt dieser Idee zum Opfer, und offenbart sich, ganz zum Schluss der Wolfsschluchtszene ebenfalls als diabolisches Ebenbild von Agathe (und wird auch von dieser gespielt). Und stets hält die Kamera in immer intimeren Nahaufnahmen auf die Solisten.

Tuomas Katajala (Max)
© William Minke

Ob diese Lesart des Libretto nun gekonnt oder nur gewollt wirkt, lässt sich abschließend nicht beurteilen, denn leider war bereits ab der Reihe 10 vom realen Treiben auf der Bühne nichts mehr zu sehen. Was blieb waren eine 16 mal 8 Meter hohe Videoleinwand, mikrofonverstärkte Rezitative und wackelnde Nahaufnahmen mit mehr oder weniger gutem Timing. Das Ganze gestaltete sich derart langweilig und aus der Zeit gerissen, dass bereits zur Pause viele Zuschauer die Erlösung an der Garderobe suchten. Vielleicht ahnten sie schon, dass in der zweiten Hälfte das Live-Kinoerlebnis nur noch durch wahllose Nachtszenen aus der Wiener Innenstadt angereichert werden würde. Agathe an der Würstelbude, Agathe in der U-Bahn, Agathe auf dem nächtlichen Nachhauseweg.

Sofia Fomina (Ännchen)
© William Minke

In selbiger Pause fasste es eine ältere Dame am Nebentisch recht trefflich zusammen: „Wenn ich einen Kinofilm sehen will, geh ich ins Kino“. Warum, so ist durchaus kritisch zu hinterfragen, soll jemand 50 Euro oder mehr für eine Karte ausgeben, wenn der Livestream oder die CD zu Hause die gleiche Erfahrung bietet. So schafft sich die Oper leider selbst ab.

Jacquelyn Wagner (Agathe)
© Arnold Schoenberg Chor

Mehr noch, es lenkt von der realen Leistung des Ensembles ab. Jacquelyn Wagner singt die Agathe durchaus vorzüglich und glänzt auch durch ihre formidable schauspielerische Leistung. Auch Alex Esposito kann mit viel Dramatik als Kaspar brillieren, während Tuomas Katajala einen kraftvollen Max schmettert. Von Patrick Lange und den Wiener Symphonikern hätte man sich vielleicht mehr romantische Details erwarten können. Das Buhkonzent zum Schluss übertönte freilich auch diese routinierten Leistung. Schade.

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