Otto Schenks Fidelio-Regiearbeit aus 1970 steht nach knapp vier Jahren wieder am Programm der Wiener Staatsoper und lässt die Herzen jener Opern-Nostalgiker höher schlagen, denen die Inszenierung der soeben zu Ende gegangene Tristan und Isolde-Serie eher Herzrhythmusstörungen beschert haben dürfte.
Diese beiden Werke nacheinander erleben zu dürfen, ist spannend, da sie gegensätzlicher nicht sein könnten und sich über die thematischen Gegensätze doch ergänzen. Hier der Wagner‘sche Liebesrausch, in der die Frau dem Mann ins Jenseits folgt – dort ein Singspiel, in dem die Frau auf sehr handfeste Art ihren Mann aus willkürlicher Gefangenschaft erlöst. Dass ausgerechnet Beethoven mit Fidelio die feministischste Oper des gängigen Repertoires geschrieben hat, ist eine großartige Pointe der Musikgeschichte – und dass es 1803 nicht zu einer Beethoven’schen Vestalinnen-Oper auf ein Schikaneder-Libretto gekommen ist, in dieser Hinsicht wohl ein Glück.
Glück hat man jedenfalls mit der Besetzung des Abends, die Leben in die ockerfarbenen Schneider-Siemssen-Gemäuer bringt. Sehr erfrischend schon der Beginn mit dem Geplänkel zwischen Marzelline und Jaquino; dabei zeigt sich Slávka Zámečniková als willensstarke Kerkermeisterstochter, was einen reizvollen Kontrast zu ihrem hell leuchtenden und schön geführten Sopran bildet. Der spontane Applaus für „O wär‘ ich schon mit dir vereint“ ist verdient, und mit Daniel Jenz hat sie einen spielfreudigen und gesanglich adäquaten Partner. Diese beiden Debüts (besprochen wird der zweite Einsatz in dieser Wiederaufnahme-Serie) sind ebenso geglückt wie jenes von Christof Fischesser als Rocco. Fischesser verfügt nicht nur über einen profunden und doch flexiblen Bass, sondern über eine äußerst beeindruckende Sprechstimme – eine Idealbesetzung. Wunderbar gelungen auch das berühmte Quartett der Erwähnten mit Leonore.
Brandon Jovanovich lässt als Florestan ein beeindruckendes „Gott“ hören, müht sich aber in weiterer Folge mit seiner teuflisch schwierigen Kletterpartie, dem vokalen Aufstieg „ins himmlische Reich“. Das trübt aber den Gesamteindruck nicht, denn man hat schon weit schlechtere Darbietungen gehört. Fast möchte man den Komponisten für seine Gesangslinie schelten, da Fidelio zwar ein großartiges, aber auch merkwürdiges Stück mit höchsten sängerischen Anforderungen zwischen den fast operettenhaften gesprochenen Stellen ist.
Pizarro gehört schon lange zum Repertoire von Jochen Schmeckenbecher, doch klang vieles eher hohl als sonor. Immerhin war diese schwer fassbare Figur schauspielerisch kompetent gestaltet: ein übel gelaunter Beamter mit zu vielen dienstlichen Freiheiten. Gern glaubt man, dass dieser schwerfällige Kerl Florestans Ermordung bereits zwei Jahre prokrastiniert, weil ihm die Angelegenheit zu mühsam ist, und ihn erst der Stress der Ministerankunft aktiv werden lässt.
Leonore/Fidelio ist vom Typ her seine Gegenspielerin, denn sie arbeitet mit großem Einsatz, um ihren Gatten Florestan zu befreien. Dieser Wille und jugendliche Tatendrang ist für die Darstellung einer Leonore unabdingbar, auch wenn sangestechnisch ein fortgeschrittenes Semester verlangt wird. An Energie mangelt es Anja Kampe nicht – neben einer sehr gediegenen und emotional mitreißenden Gesangsleistung gefiel besonders ihre Euphorie am Schluss, zumal die sich in den freien Himmel öffnende Zugbrücke immer noch ein sinnvolles wie schönes Hintergrund abgibt. Ihre Leonore wurde zum Mittelpunkt dieses Finales, und diesen Platz machte ihr auch keiner streitig. So soll es sein, so war es in der Vergangenheit nicht immer.
Das Finale bringt auch den Auftritt von Don Fernando – eine weitere neue Partie für den vielseitigen Martin Häßler, der sich als Ensemblemitglied quer durchs Repertoire der Staatsoper singen darf und den vielen Anforderungen gerecht wird. Seine Bühnenpräsenz ist unbestritten, allerdings scheint der Fernando etwas tief für seine Stimme zu liegen.
Der Chor gab sich tadellos, und dasselbe kann man auch über die musikalische Leitung durch Axel Kober sagen. Bei der Leonoren-Ouvertüre vor dem Vorspiel zum dritten Bild konnte man geradezu ins Schwärmen geraten, da stimmte der große Bogen ebenso wie die kleinen, fein ziselierten Details, und der spontane, lang anhaltende Applaus für dieses Kleinod war mehr als verdient. Hier wird eine Wiener Tradition fortgeführt, die den Höhepunkt, also das Finale, um fast eine Viertelstunde hinauszögert, das wird andernorts nicht mehr gemacht. Aber wenn die Musik so wunderbar klingt wie an diesem Abend, soll’s sein, und als Umbaupause von Florestans Kerker zum Schlussbild hat sie in dieser Inszenierung auch einen praktischen Sinn.
Die letzte Vorstellung der Wiederaufnahme-Serie wird die 249. sein, und mit Wetten auf eine Jubiläumsvorstellung wird man kein Risiko eingehen, zumal die Staatsoper zur aktuellen Wiederaufnahme auch dankenswerterweise ein umfangreiches neues Programmheft herausgegeben hat.