Dass die Freiheit das wahrscheinlich höchste Gut ist, sehen wir bis heute allerorts. Sie steht auch im Mittelpunkt von Ludwig van Beethovens einziger Oper Fidelio. Doch was kommt nach der Freiheit? Dieser Frage geht David Hermann in seiner Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin nach. Folglich schafft er eine Welt, in der es kaum Helden und wenig Heroisches gibt.

Ingela Brimberg (Leonore)
© Bernd Uhlig

Verrohung ist im Mikrokosmos des Gefängnisses, über das der Gouverneur Don Pizarro herrscht, an der Tagesordnung. Nicht nur die Gefangenen sind hier gezeichnet von den Jahren in der Haftanstalt, sondern auch die Wärter und ihre Familien. So verhandeln Marzelline und Jaquino in der Eröffnungsszene über ihre Zukunft während sie den Körper eines toten Häftlings wäscht. Beobachtet werden sie dabei von mehreren Dutzenden gesichtslosen weil übergroß-maskierten Gefangenen. Erst als sie ans Tageslicht kommen, werden ihre Gesichter erkenntlich. Es ist eines der stärksten Bilder, die Hermann in dieser Inszenierung zeichnet.

Robert Watson (Florestan) und Ingela Brimberg (Leonore)
© Bernd Uhlig

Das Gefängnis, in dem Florestan unrechtmäßig inhaftiert ist, ist kein Ort für Helden, sondern ein Ort voller Menschen, die versuchen, in einem Unrechtsregime zu überleben. Sie alle sind Gefangene eines skrupellosen Systems. Unschuldig ist hier niemand, auch Leonore nicht: Sie muss lügen und täuschen, spielt Marzelline Gefühle vor und wird schließlich durch Druck unfreiwillig zur Mörderin als sie einen Gefangenen erschießt. So gestaltete auch die schwedische Sopranistin Ingela Brimberg ihre Rolle mit vielen einfühlsamen Momenten mit warmer manchmal rauer Stimme sicher und sensibel. Die Sängerin zeichnete eine Frau voller Stärke, die gleichzeitig von Selbstzweifeln geplagt ist. Diese Leonore handelt aus Liebe, weiß aber auch, dass sie, um ihr Ziel zu erreichen, Dinge tun muss, die sie ihr Leben lang bereuen wird.

Ein Leben lang gezeichnet von seinen Erfahrungen wird auch Florestan sein. Der zu Unrecht Langzeiteingekerkerte ist gebrochen und traumatisiert. Menschliche Begegnungen erschrecken ihn, eine alte Decke wird zu seinem Schutzort in einer Welt, in der es keinen Schutz gibt. Die Befreiung durch Leonore ist für ihn zwar äußerliche Freiheit, doch es wird noch lange dauern, bis er sich selbst vom Erlebten befreien können wird. Passend dazu gestaltete Robert Watson seine Rolle als schattenhafte Figur. Dabei fand der Rollendebütant vor allem im Zusammenspiel mit Brimberg zu Stärken, schaffte aber in seiner sehr gedämpft wirkenden und silbenverschluckenden Arie nicht vollends zu überzeugen.

Albert Pesendorfer (Rocco) und Ingela Brimberg (Leonore)
© Bernd Uhlig

Entdeckung des Abends ist Sua Jo als Marzelline mit einem gewinnend-abgerundeten Sopran ohne Schärfen. Gideon Poppe stand ihr als Jaquino dabei in kaum etwas nach. Albert Pesendorfer war kurzfristig als Rocco eingesprungen und überzeugte gänzlich. Mit großartiger Tiefe und langen Linien zeigte er die größte Textverständlichkeit des Abends, die bei vielen anderen Sänger*innen leider nicht gegeben war. Jordan Shanahan, ebenfalls kurzfristiger Einspringer, erntet für seinen Don Pizarro am Ende des Abends von Teilen des Publikums Buhrufe. Thomas Lehman zeigte einen soliden Kurzauftritt als Don Fernando.

Im Graben gab Sir Donald Runnicles einen größtenteils flotten Fidelio mit großer Transparenz. Dennoch wirkte das Spiel des Orchesters der Deutschen Oper an vielen Stellen zu brav und gedämpft. Während es in den dunklen Momenten an musikalischer Schärfe zur Untermalung fehlte, blieben auch die kaleidoskopisch-jubelnden Farben des finalen Schlusschores blass. Stark an diesem Abend war der Chor des Hauses, mal als aus den Verließen gerade entkommene Gruppe voller Selbstzweifelnder, später als tosende Meute, die die Macht an sich reißen will und alle ihr unliebsamen Elemente aus dem Weg räumt. 

Robert Watson (Florestan), Ingela Brimberg (Leonore) und Thomas Lehman (Don Fernando)
© Bernd Uhlig

Der neue Fidelio von David Hermann mit einer unauffälligen aber effektiven Bühnengestaltung von Johannes Schütz zeigt eindrucksvoll, wie die Revolution ihre Kinder frisst. Leonore bringt die Gefangenen im Verlauf des ersten Aktes nicht nur an das Tageslicht, sondern befreit sie aus den Ketten und schenkt ihnen die Freiheit. Doch schon im nächsten Moment wenden sich die Befreiten gegen ihre Befreierin. Es ist ein spannender und zum Nachdenken anregender Ansatz des Regisseurs, der vieles zu bieten hat, bei dem jedoch nicht alles gelingt. Nach radikaler Deutung des Vorangegangenen wirkt das Schlussbild, in dem die Protagonist*innen einfach in der Menge verschwinden, leider schwach. Ein konsequenteres Ende hätte dem Abend die Krone aufgesetzt.

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