Seit über 20 Jahren gehören die Festtage zu Ostern zum festen Bestandteil des Berliner Konzertlebens. Daniel Barenboim lädt in dieser Woche die bedeutendsten Musiker in die deutsche Hauptstadt ein, um musikalische Weltliteratur zur Aufführung zu bringen. Das ist nicht allein eine organisatorische Meisterleistung. Es ist ein Nachweis besonderer Qualitäten dieses Ausnahmedirigenten, ist es doch keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, dass eigenständig denkende Musiker auch gut zusammenarbeiten können. Dass Barenboim und Anne-Sophie Mutter ein perfektes, geradezu anrührendes Musiker-Paar auf der Bühne bilden, davon zeugte der erste Programmteil des Konzerts mit der Staatskapelle Berlin.
Kurzfristig wurde Takemitsus Nostalghia – in memory of Andrei Tarkovskij für Solovioline und Streichorchester in das Programm aufgenommen. Das 1987 für Menuhin geschriebene Stück bezieht sich auf den gleichnamigen, vier Jahre zuvor gedrehten Film Tarkowskijs. Nach einer kurzen Einleitung intoniert die Solovioline eine dem Komponisten zufolge „einfache, pathetische“ Melodie, die Mutter in hauchdünnen Fäden vom tiefsten Erdenton in Flageolett-Höhen steigen ließ. Barenboim entlockte den Musikern des mehrfach geteilten Streichorchesters eine Begleitung, in der sich der Regenbogen der ständig präsenten, kaum variierten Melodie der Violine wie im stillen Wasser spiegelte. „Ich möchte einen Klang erreichen, der so intensiv ist wie die Stille“, sagte Takemitsu einmal, und es scheint, als habe er in dieser Aufführung seine kongenialen Interpreten gefunden.
Dem folgte die Darbietung des einzigen Violinkonzerts Beethovens, das der Geigerin reichlich Gelegenheit gab, ihre intonatorische Vielfalt im Spiel vorzuführen. Fast durchweg – und leider auch im insgesamt sorgfältig ausgearbeiteten Programmheft – wird Beethovens Violinkonzert als „Symphonie mit obligater Violine“ etikettiert. Seine Besonderheit aber ist, dass es zwar für einen berühmten Geiger, Franz Clement, geschrieben wurde, aber kein Virtuosenkonzert ist. Bravour war Beethoven eine Verfallserscheinung, die mit der Loslösung der Instrumental- von der Vokalmusik einhergegangen ist. Übertriebene Virtuosität verstieß für ihn gegen den Ursprung der Musik, die vom Gesang herkommt, wie dies schon die Antike wusste. „Der Gesang verdient allem übrigen vorgezogen zu werden“, so Beethoven, und die Violine eignet sich besonders gut dazu, die Singkunst nachzuahmen. Aus diesem Blickwinkel haben die Musiker das Konzert gedeutet.
Es lassen sich schwer Worte finden, um die feine Kantabilität im Spiel zu beschreiben, mit der Mutter etwa das in der Durchführung erklingende neue Thema vorzutragen verstand. Den Atem verschlug es wohl jedem Hörer im Saal, wenn sie nach der Solokadenz das Seitenthema so schlicht und einfach spielte wie dies nur den ganz Großen ihrer Zunft möglich ist. Im langsamen Satz tritt das Gesangliche in anderer Weise hervor. Auch wenn Beethoven ihn nicht ausdrücklich als Romanze bezeichnete, komponierte er ein „zu Gemüt gehendes Erzähllied“, wie Friedrich Schlegel diese Dichtungsart charakterisierte. Solistin und Orchester fanden die hellsten Farben, um über dieses lyrische Gemälde eine Helligkeit zu verbreiten, so wie Hegel die Romanze beschrieb. Im dritten Satz kommt zum Gesanglichen das Tänzerische hinzu. Wenn das zweite Couplet in g-Moll erklingt, ruft es ganz im Sinne des Komponisten das Herzstück des Kopfsatzes in Erinnerung und bildet so aus den drei Sätzen einen Zyklus.
Nach der Pause folgten zwei Werke der klassischen Moderne, die nur sehr unzureichend für den Impressionismus einerseits, den Expressionismus andererseits stehen. Barenboim erkannte eine andere Beziehung zwischen Debussys La mer und Bergs Drei Orchesterstücken: den Versuch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Symphonie zu komponieren. Kurz vor der Entstehung von La mer beklagte Debussy, dass die Musiker nur die Musik hören, „die von gewandten Händen geschrieben wurde, aber niemals die Musik der Natur. Den Sonnenaufgang zu erleben ist viel nützlicher als die ‚Pastorale‘ zu hören“. La mer ist, wie Debussy erklärte, „keine direkte Nachahmung, sondern seelische Übertragung dessen, was in der Natur nicht sichtbar ist“. Und Barenboim, der die Streicher auffallend dunkel tönte, ließ im Wechsel von Werden und Absterben musikalischer Gestalten regelrecht vegetative Bewegungen entstehen. Dass Barenboim ein großer Bruckner-Dirigent ist, wollte er auch in dieser Aufführung nicht verleugnen, wenn er den letzten Satz als die Synthese der beiden vorausgegangenen Sätze gestaltete und den eingangs exponierten Bläserchoral nun zur Apotheose steigerte.
Am Schluss dirigierte Barenboim eines seiner allerliebsten Werke: Bergs Drei Orchesterstücke. Sie beginnen mit Schlagzeug-Geräuschmusik, aus der sich das Präludium entwickelt. Dies gestaltet an Mahler anknüpfend etwas, was sich bei dem Vorbild so nicht finden lässt: Kreisförmigkeit im Formverlauf. Dann folgt der Reigen. In ihm sind Unschuld und Verderbnis, Sublimiert-Kindliches und Handgreiflich-Laszives dadurch ineinander verwoben, dass die Gestalten aus demselben Motivmaterial gewonnen wurden.
Schloss La mer noch triumphal, so trug Berg im Marsch diese Final-Idee endgültig zu Grabe. Barenboim gestaltete ihn als finale Katastrophe. Er ließ das Ganze sich aus einem kurzen, sarkastischen Marschmotiv im Violoncello entwickeln und führte es mit tragischer Zwangsläufigkeit über die Exposition des Hauptthemas in die Schlusstakte, deren unheimlich leises Ticken der Bläser er wie als Zeitbombe wahrnehmen ließ, die wiederum auf die Weltkriegskatastrophe hinzielte. Das ist beklemmender als der Hammerschlag im Schlusstakt, der von einigen im Publikum kopfschüttelnd mit Gelächter quittiert wurde. Doch Berg wollte die Zerstörung drastisch: Im August 1914 schrieb er die Partitur-Reinschrift - der Erste Weltkrieg brach aus.