„Habt Ihr je an die enorme Zahl meiner Jahre gedacht?“ – Giuseppe Verdi war fast sechsundsiebzig, als er Arrigo Boito diese Frage stellte, der ihm eine komische Oper vorschlug, die auf William Shakespeares Lustigen Weibern von Windsor beruhte. Da Verdi selbst bereits ein komisches Sujet suchte, schrieb er gleich in den ersten Wochen die komödiantische Fuge, die das Werk später beschließen sollte. Boitos Handlungsentwurf zu Falstaff und sein Textbuch hatten ihn überzeugt.
In seiner letzten Oper geht Giuseppe Verdi gleich in medias res: keine Ouvertüre zur Einführung, und Sir John Falstaff, adliger englischer Lebemann von imposanter Körperfülle, ist gerade dabei, Liebesbriefe identischen Inhalts an zwei betuchte Ladies des kleinen Städtchens Windsor zu adressieren. Dass sich Mrs. Ford und Mrs. Page kurz danach brühwarm über Falstaffs Ansinnen austauschen und zusammen mit Nannetta, Tochter der Fords, und Mrs. Quickly, einer ebenso spitzfindigen Freundin, einen Plan schmieden gegen die gleich doppelte Übergriffigkeit von Sir John, ist wahrhaft exzellenter Komödienstoff.
Als Verdis Abschiedsoper kann Falstaff mitunter arg sentimental und altersweise klingen: mit einem drohenden Zeigefinger gar, der genau darauf hinweist, was sich schickt. Und eigentlich könnte die Handlung im zweiten Akt mit der Bestrafung des unmöglichen Individuums enden, bei der es seine Lektion gelernt hat. Nicht so in David Hermanns Neuinszenierung am Staatstheater Nürnberg. Dort sorgt Sir John – schlitzohriger Schmarotzer in lockerem Schlabberlook, Lebemann und Möchtegern-Weiberheld – im modernen Bungalow neureicher Vorstädter für Aufruhr. Und im dritten Akt sind es die Frauen, die ihn nicht in Ruhe lassen, die ihn zum romantischen Verwirrspektakel eines Sommernachtstraums ins Gehölz locken. Da ist mehr Aufbegehren gegen zu Hause langweilende Ehemänner wie Mr. Ford oder Dr. Cajus, der hilflos Nannetta anhimmelt, im Spiel. So sticht der Bohemien Falstaff nicht nur im Outfit aus der gefühllosen Noblesse glatt gebügelter Anzüge von Wohlstandsbürgern hervor; Hermann zeigt bewusst einen saloppen Verführer ohne Wampe, dem die Frauen nachschauen. Der kann am Ende auf die seelenlosen „gente dozzinale“ zeigen, Dutzendmenschen, die unter dem Vorwand von Moral in lächerlicher Eintönigkeit leben. Und im Schmunzeln daran erinnern, den Augenblick zu genießen und mitzulachen, wenn man mal ausgelacht wird.
Das zentrale Domizil im Bühnenbild von Jo Schramm, in kühler Spanplatten-Optik gezimmert, zeigt zwei Seiten der Gesellschaft im modernen Windsor: eine Nobelvilla des Ehepaars Ford, mit Sofalandschaft im Erdgeschoss und unifarbiger Bücherregalreihung im First Floor. Eintönig im Garten der verschließbare Swimming Pool sowie ein Porsche, wie aus dem 3D-Drucker.
Wird das Ganze gedreht, landet man im Plattenbau gesichtsloser Großstädte, wo allerlei Typen beim Kebabladen lungern, der meist klamme Falstaff mit seinen Laufburschen Bardolfo und Pistola mitten unter ihnen. Video-Projektionen lassen einen animierten Schimpansen an der Fassade sein Unwesen treiben und für Gelächter sorgen, in projizierter Steinoptik mit trübem Diskolicht ein idealer nächtlicher Treffpunkt für lichtscheues Gesindel. Da wird eifrig getrunken und gezockt, mit Zechkumpanen handfest gestritten. Man muss schnell sein, um einen Stich zu machen, und behände rasantes Spiel verlangt David Hermann von seinen Sängern durch alle Akte hindurch.
Gerade noch als introvertiert vergeistigter Wissenschaftler Alan Turing in Erinnerung: jetzt als Bardolfo begeisterte Martin Platz in geradezu zirzensischer Beweglichkeit, mit muskulärem neben ariosem Muskelspiel. Pfiffig setzte daneben Taras Konoshchenko als Pistola den Falstaff unter Druck. In der Auseinandersetzung mit Falstaffs Burschen hat Dr. Cajus nichts zu lachen; Hans Kittelmann spielte den verstockten Akademiker ebenso hervorragend wie den verklemmten Liebhaber, der bei Nannetta schließlich das Nachsehen hat.
Claudio Otelli zelebrierte betörend den lebenslustigen Genießer, der in Plastik-Mülltonnen nach Essbarem sucht und geldgierig mit galanten Anspielungen seine Rendezvous einfädelt. Ein Lebenskünstler, der unterhaltsam seinen Charme einsetzt; eine Kämpfernatur auch mit durchtrainiertem Körper. Mit sonorer, raumfüllender Stimme, aber auch der notwendigen Beweglichkeit für Verdis Parlando-Ton gab er den gutmütigen Kumpel, der aufgrund seiner Lebenserfahrung nicht leicht aus der Ruhe zu bringen ist, ein Unikum, in das man sich echt verlieben kann. Samuel Hasselhorn zeigte als bourgeoiser Gegenpart in Ford viel Spielwitz, stattete seinen auch in der oberen Lage präsenten Bariton mit eindringlichem Schmelz aus.
Stark sind die von Falstaff umworbenen Damen besetzt: Insbesondere Emily Newton trumpfte als Alice Ford mit stimmlichem Furor auf, leuchtete warm auch gefühlvolle Sequenzen aus. Mühelos schaltete Almerija Delic von großen Kantilenen auf feine Nuancen in den Reverenza-Verbeugungen um, wirbelte als Mrs. Quickly gleichzeitig sportlich auf der Bühne. Überzeugend dazu Corinna Scheurle als Meg Page, zurückhaltender gesungen und elegant gespielt. Dass sie am Ende allein im Scheinwerferkegel steht und ein Schuss die finale Scheinidylle durchbricht, darf wohl als Warnung vor allzu viel Happy End verstanden werden.
Chloë Morgan und Sergei Nikolaev brachten viel komödiantisches Gewürz ins turbulente Treiben, imponierten dazu mit feiner buffonesker Stimmkultur. Präzise und federnd spielte das Philharmonische Orchester unter der Leitung von Björn Huestege, passte sich sehr flexibel und mit kantablen Soli den Sängern an. Wunderbar klangvoll auch die Rolle des Chores der Staatsphilharmonie.
Verdis Falstaff zeigte sich als geistvolles Meisterwerk, das ohne großes Rampenschmettern auskommt. Wer Selbstironie und feingliedriges Kammerspiel liebt, wird die neue Nürnberger Produktion wie ein Gourmet genießen!