So gewichtig, stiftend und interpretierbar sich Ein feste Burg ist unser Gott für den Protestantismus und seine Geschichte darstellt, so groß und eindrücklich sind Johann Sebastian Bach in der Musikwelt und Sir John Eliot Gardiner als dessen Wissens- und Leidenschafts-Ausdeuter in ihrer rezipierenden Bedeutung. Mit Martin Luthers Werk in Bachs Choralklassiker, der Reformationskantate Gott, der Herr, ist Sonn' und Schild sowie dem Fest-Allrounder Nun danket alle Gott und Heinrich Schütz' gedanklichen 100-Jahr-Feierhymnen leisteten der Präsident des Bach-Archivs und seine Ensembles der English Baroque Soloists und des Monteverdi Choir ihren typisch aussagekräftigen, mitreißenden Barock-Beitrag zum historischen Kirchenjubiläum. 

Den Psalmmusiken von Schütz entlockten sie dafür alle aufrührende, musikreformatorische Pracht, sodass dem Zuhörer die künstlerische Furore eingebläut wurde, die der Komponist bei den Feierlichkeiten 1617 verbreitet haben muss. Mehr als zu entstauben belebten die Musiker die unterschiedlichen Vertonungen derart energisch, dass man sich das nicht nur für andere gesittete Gedenkschemata wünschte, sondern bei dem entfachten Adrenalinschub trotz warmen Gemächlichkeitswetters Bäume hätte ausreißen können. Mit SWV 41 intonierten Chor und Orchester den mutmachenden Motivationseinstieg im fröhlich-gnädigen Duktus, der einen gleich wirkungsvoll ins Geschehen riss.

Gab er hier noch mit leicht-weicher Schönheit, aber unnachahmlich bestimmter Betonung, die Aufforderung Nun lob, mein Seel, den Herren vor, sorgten die ausgelassenen Instrumentalisten und das zweite Vokalensemble für die rhythmische, anfeuernde Verstärkung. Gestochene Textbehandlung und Phrasierung, gepaart mit einer guten Balance der drei Diskant-Bläser und zwei Posaunen, machten diese Wechsel griffig und einprägsam. Kontinuierliche Steigerung erfuhr die Wucht der Geistesreizung durch die stimmliche Dreiteiligkeit in anschließendem Nicht uns, Herr, sondern deinem Namen, in dem das klar herausgestellte Kontrastierungs-Mehr aufgefächert wurde, um es im gewaltigen Tutti münden zu lassen. Enumerative Feststellungen eiferten da in gesprochener Zackigkeit, zum Ende kurz unterbrochen von der farblich und sentimental – langsam, zurückhaltend und bedenklich – eingerückten Antithese „Die Toten werden dich, Herr, nicht loben“, woraus sich gekonnt überschwänglich die irdische Verpflichtung bekräftigte, die mit einer schnellen Alleluia-Fuge voller Frische ihren Kulminationsschluss fand.

Schließlich rückte der bombastische Pomp mit Pauken, drei Tompeten und zusätzlicher Bassposaune in Danket dem Herren, denn er ist freundlich auf die Bühne, in dem die Kraft des Wortes in chorischer Strahlung streng-festlich wiederholt in Kopf und Adern eingehämmert wurde. Lediglich die solistischen, hinreißenden Einhaucher von Doppel-Duett und Terzett bescherten auftankende Verschnaufer. Mit berstendem Trotz und sprudelnder Überzeugung akzentuierte Gardiner die abgesetzten Ausrufezeichen des finalen Dankes, beschlossen vom glaubenden Sold der ewig währenden Güte, herrschaftlich untermalt durch eine kleine Intrada der Pauken und Trompeten.

Diese Momente aufnehmend und berauscht (wie das Publikum), packten die Ensembles die rasende Eröffnung der Bachkantate 79, in der sich die sprühenden Streicher, die zirkelnden Hörner und Pauken und der knackige Chor zupackend, fordernd, gegenseitig anheizten. Er konnte und durfte in diesem verflochtenen Dickicht zwecks Verständlichkeit und Markenzeichen von seiner wunderbaren artikulatorischen Exaktheit nicht „las-sen“. In Einheit von Deutlichkeit und legerem Uhrwerk gestalteten Reginald Mobleys Alt und Leo Duartes Oboe die Sonn und Schild-Arie, bei der nur eine stärkere Singstimme wünschenwert gewesen wäre, um auch in hinteren oder oberen Reihen problemlos vernommen zu werden. Wie seit einiger Zeit zu beobachten, versucht Gardiner aber mit der Auswahl der feinen, zierlichen, jungen Hohe-Stimmen den Effekt der Knabenvokalität zu gewinnen. Das kann und muss man mögen oder auch nicht. Sie präsentierte sich jedenfalls zudem mit Sopran Amy Carson im beschwingten, nach vorne getragenen, atempräzisen, phrasierungsdrappierten Duett mit Bariton Robert Davies, der dazu in anschmiegsamer, passender Manier den vorangegangenen rezitativen Übertrag leistete.

Das Bild setzte sich in BWV 192 fort, in der die Durchlüftung mittels geistsprechend, federnden Traversflöten weitergezeichnet wurde. Fast müßig zu erwähnen die leicht transportierte Kompaktheit im kunstvollen Concerto-Coro-Geflecht, in dem Gardiner alle verstärkenden Stärken in Betonung und Dynamik, Akzente und Verzierungen ausgrub, mit „Herzen, Mund und Händen“ eben. Nachdem nun Angela Hicks den Knabensopran-Part zusammen mit Davies im fröhlichen, flüssigen „Der ewig reiche Gott“ bestritten hatte – etwas freier und artikulatorisch präsenter – tanzten alle im glücklichen Ehrenchor dem reformationsfeierlichen Höhepunkt entgegen.

Und das Ein feste Burg ist unser Gott ertönte dabei wahrlich aus vollem Rohr. Stephen Saunders' Bassposaune knarzte so schön mächtig, die Oboen jubelten und die Trompeten und Pauken der zweiten Fassung bliesen ebenfalls zum Angriff, mit dem der Chor in textuierter Gewissheit den „alten bösen Feind“ verjagte. In diesem Modus sah Gardiner jetzt Miriam Allan vor, um Davies' fetzig-schwungvolle Arie mit dem solistischen Cantus firmus spaßvoll zu begleiten. Ihr stärkerer Sopran drang mit der einer Stimme sprechenden Solo-Oboe nun auf zu kurz gekommenen Plätzen durch, die es ihr sogar nach ihrer Arie, die sie unter Begleitung Luise Buchbergers Cellos und Oliver-John Ruthvens Orgel in Artikulationsgeballtheit mit Leben füllte, klatschend dankten. Vervollständigte Hugo Hymas zu guter Letzt die solistische Auslese mit seinem spritzigen, beweglichen, hellen Tenor, krönten der von Glaubensüberzeugung und Einheit strotzende Mittel- sowie der Schlusschoral die Lutherisch-Bachsche Durchdringung, wie sie nur der Monteverdi Choir schafft.

Mit der Zugabe des Kantateneingangs fegte Gardiner im Gedächtnis nicht nur Zweifel an vorheriger Kleinstimmigkeit der hohen Soli weg, er unterstrich vielmehr die Unvergesslichkeit dieser musikalischen, vitalisierenden Reformationsfeier.

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