Ein Liebestrank, der nicht zu einem Liebestod führt: Gaetano Donizettis 1832 entstandene Oper L'elisir d'amore könnte nahezu eine Parodie auf den fatalen Trank in Richard Wagners Tristan und Isolde sein, obwohl sie über 30 Jahre vor dessen Musikdrama entstand. Doch der im 12. Jahrhundert entstandene Tristan-Stoff erfreute sich zu Donizettis Zeit großer Beliebtheit; kein Wunder, dass zu Beginn des Stückes die schöne und wohlhabende Pächterin Adina den Angestellten ihres Landguts aus diesem Büchlein vorliest und der arme Nemorino, unsterblich in Adina verliebt, davon träumt, durch eben diesen Trank ihre Liebe gewinnen zu können.
Am Staatstheater Nürnberg hat die junge italienische Regisseurin Ilaria Lanzino, u.a. 2020 mit dem 1. Platz des renommierten Europäischen Opernregie-Preis ausgezeichnet, über die zeitlichen Grenzen des ursprünglichen Librettos von Eugène Scribe hinaus fabuliert, das Felice Romani für Donizetti eingerichtet hatte. Welches Elixier könnte Nemorino heute, fast 200 Jahre später, helfen? Noch ganz unverfärbt beginnt das Freudenfest auf Adinas Hof vor romantischer Bergkulisse und unter schattigen Lindenbäumen, in deren Stämme die Liebenden seit Jahren ihre Initialen ritzen; der alte Dulcamara, ein reisender Wunderdoktor, verteilt flaschenweise süffigen Rotwein, der Herzen und Hemmungen löst. Beim schwungvollen Tanz kommt Adina dem Sergeanten Belcore, der mit seiner Truppe im Dorf Quartier bezogen hat, immer näher. Nemorinos Eifersucht ist geweckt.
Und nun machen Lanzinos Handlungsstrang sowie Emine Güners prall buntes Bühnenbild einen unerwarteten Schnitt: ein moderner Marquis auf Reisen, nach eigenen Worten Doktor enzyklopaedicus ebenso wie World-Wide-Wohltäter, tritt auf, lässt von seiner grell farbigen Helfertruppe Smartphones verteilen, auf denen die Applikation „Elisir“ das Kennenlernen im Dating-Portal erleichtert und gleich noch das eigene Profil vorteilhaft aufhübscht sowie mit schrillen Outfits unterstreicht. Überlebensgroße Mobiles (die leider nur im Parkett vollständig gesehen werden können) schweben vom Schnürboden herunter, lassen auf Riesenschirmen die Zuhörer teilhaben am allgemeinen Daddeln und Wischen, an eingehenden Likes und Herzchen auf dem Smartphone, am Explodieren der Followerzahl. Anstelle von rustikalem Flair mediterraner Bauernhäuser nun farbig animierte Vitrinen aus flackernden LED-Leisten, in denen jeder mit sich allein ist; digitaler Social-Media-Hype statt munter-rhythmischer Ländlerfolgen. Der Liebhaber, jetzt ein von Werbung getriebener Konsument. Menschen wählen Menschen wie Waren aus, und trotzdem kommt kein echtes Miteinander zustande.
Der neue Dulcamara 2.0 hat seinem schrulligen Vorgänger die Schau gestohlen, die neue Finder-App ersetzt warmherziges Flirten. Das ist Belcores Welt, der Adina im Chat einen Heiratsantrag macht; da sie in ihrem flatterhaften Wesen Nemorino ärgern will, geht sie zum Schein auf Belcores Avancen ein.
Besonders liebevoll in Szene gesetzt war Nemorino, der in Martin Platz, als lyrischer Tenor seit langem am Nürnberger Haus, optimal besetzt war: voller Kantabilität und leuchtend leicht in den Höhen. Sein Nemorino mischte perfekt linkischen Bauernbub und verliebten Jüngling, der Adina mal anschmachtete, dann wieder zappeln ließ, echt und unmittelbar im Charakter und felsenfest im Vertrauen seiner Wirkung auf Adina.
Diese hält im Gegensatz jede schnelle Bindung für altmodisch, verhöhnt geradezu zynisch Nemorinos monogame Vorstellungen. Andromahi Raptis' Adina wirbelte wie in südlich warmen Windböen über die Bühne, immer auf der Suche nach neuen Liebesabenteuern. Portamento- und Verzierungspassagen gelangen der Sopranistin vortrefflich, mit bewundernswerter Präzision der Piani und Koloratursicherheit auch bei Spitzentönen verstand sie bravourös zu glänzen.
Auch wenn Nemorino es ausprobiert: mit „Elisir“ kann er sich nicht anfreunden. Als es auf den Plattformen im Netz die Runde macht, dass er durch eine Erbschaft zu Geld kommt, wird er plötzlich zum umschwärmten Mittelpunkt auf dem Landgut, erwacht Eifersucht auch bei Adina. Mit einigem Fingerschnipsen bereitet sie dem digitalen Spuk ein Ende, kehrt bekehrt zu ihrem einfachen Leben und beständigen Liebhaber zurück. Auf fast leerer Bühne, die nur der immer präsente, knorrig vertrauenerweckende Lindenbaum schmückt, strahlt die neue Ruhe ihre Faszination ein: im von Marin Platz wunderbar sphärisch gestalteten „Una furtiva lagrima“ des Nemorino, bei Andromahi Raptis mit anrührendem „Prendi, per me sei liber”. Da brauste sogar Applaus auf im Publikum, das sich zuvor mit Beifall überraschend zurückgehalten hatte.
Den Belcore zeichnete Yohan John Ji überspitzt, anfangs zackig wie im Militärmarsch; in der neuen Medienwelt fühlte er sich mit seinen halbstarken Soldaten sichtlich wohl. Mit kernigem Bariton füllte Taras Konoshchenko überzeugend den digitalen Dulcamara, gab auch auf den überlegensgroßen Screens den erfolgreichen Promoter der neuen Gefühlswelle. Als Dulcamara der alten Werte beobachtete Michal Rudzinski das Treiben, war wie Nemorino immer Hort von Tradition und Beständigkeit.
Francesco Sergio Fundarò animierte als Dirigent des Abends die Staatsphilharmonie zu energischem wie beschwingtem Klang, ermutigte zu beseelten Instrumentalsoli und würzte in beweglichem Metrum die Geschichte mit effektvoller Italianità. Den Chor des Staatstheaters hatte Tarmo Vaask bestens präpariert, klangschön und gleichzeitig lebhaft im turbulenten Bühnengeschehen zu agieren.
Dass für Ilaria Lanzino Liebe auf konventionellen, romantischen Wegen entstehen sollte, war nicht zu übersehen. Wer dabei nicht allein auf die stimulierende Wirkung von Bordeaux-Bouteillen vertrauen will, muss wohl doch auf das Erscheinen eines Dulcamara 3.0 warten.