Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen: An der Oper Zürich setzt man coronabedingt auf ein sozial distanziertes Orchester, das aus dem Probenraum zugeschaltet wird. Nun ist man als Opernfan momentan ja über jede Aufführung, die überhaupt stattfinden kann, froh und daher nimmt man auch diese technische Schummelei wohlwollend in Kauf. Ein bisschen komisch ist es allerdings schon, wenn das Orchester beim Stimmen vor der Vorstellung zu hören ist, im Graben aber lediglich Lautsprecher zu sehen sind. Mittels Übertragung auf einer Videowall absolvieren Orchester und Dirigent (aktuell bei jeder Vorstellung live) nach einem kurzen Infofilm schließlich ihren Auftritt.
Die Übertragung funktioniert ganz einwandfrei, dank der Tontechniker klingt das Orchester täuschend echt und räumlich. Dennoch fehlt im Saal die spezielle Schwingung eines Live-Orchesters; diese kann eben auch das beste Aufnahmeequipment noch nicht einfangen. Unter der Leitung von Nikolas Nägele startete die Philharmonia Zürich in der Ouvertüre beschwingt und locker-leicht in Gaetano Donizettis Werk, den ganzen Abend über fehlte jedoch ein bisschen die Spannung und der letzte Schuss Pep. Der Auftritt Dulcamaras klang im Orchester wie ein Gin Tonic, bei dem an Hochprozentigem gespart wurde, und die Spritzigkeit von Adinas Musik war ebenso wenig vorhanden, wie die Kohlensäure einer am Vortag geöffneten Prosecco-Flasche. Die stärksten Momente hatte das Orchester bei Nemorinos lyrischem Herzschmerz, den sie in ausladende Klangbögen gossen. Schwer zu beurteilen sind durch die technische Aufbereitung sämtliche Aspekte der Dynamik und die Balance zwischen den Instrumentengruppen – hier bleibt nämlich unklar, inwieweit am Mischpult nachgeholfen wurde. Die Abstimmung zwischen Orchester, Dirigent und Sängern funktionierte erstaunlich gut; besser sogar als an manchen Opernabenden, an denen alle Beteiligten im gleichen Haus anwesend sind. Dennoch bleibt der Beigeschmack einer Opernkaraokeparty haften, was als Notlösung während einer Pandemie in Ordnung ist, hoffentlich aber nie zum Dauerzustand werden wird!
Eine Luxusbesetzung ist dem Zürcher Opernhaus zweifellos damit gelungen, dass sie Ensemblemitglied Mauro Peter den Nemorino schmackhaft gemacht haben. Sein Tenor schmiegt sich elegant an die Partie und verströmt in allen Lagen Wohlklang. Die Stimme ist einerseits voluminös genug, um sich in den Ensembleszenen mühelos Gehör zu verschaffen und andererseits ist sie zu delikater Pianokultur fähig. Mir persönlich fehlte bei aller technischer und gestalterischer Perfektion allerdings die emotionale Komponente, so war beispielsweise “Una furtiva lagrima” mehr eine Demonstration von gesanglichem Können als eine Herzschmerz-Schmacht-Arie. Als Adina legte Mané Galoyan hingegen eine breite Palette an Emotionen in ihre Rolle; die Stimme setzte sie mal keck und kapriziös tänzelnd, dann wieder voll Wärme strahlend ein. Ihr Sopran ist nicht groß, besticht aber durch ein samtiges Timbre in der Mittellage, eine tragfähige Tiefe und leichtfüßige Koloraturen. Und auch durch die Kombination von Stimme und Darstellung gelang es Galoyan, die Adina bei aller Zickigkeit der Figur sympathisch wirken zu lassen.
Eine lebende Karikatur war der Belcore von Samuel Dale Johnson, der sich slapstickhaft durch den Abend blödelte. Die vokale Gestaltung war jedoch unausgewogen. Einige Passagen der Partie gelangen ihm hervorragend, sein Bariton strömte profund und ließ mit karamelligem Timbre aufhorchen; wieder andere Momente gerieten jedoch hart und kantig. Erwin Schrotts Dulcamara ist darstellerisch eine Hommage an Captain Jack Sparrow und stimmlich nicht weniger als ein Genuss. Die Stimme ist ebenmäßig und satt, schillert in reichen Farben und bietet eine große Bandbreite an Dynamik. Das komödiantische Element entfaltete sich dabei insbesondere durch das gelungene Zusammenspiel aus Gesang, Textgestaltung und Spiel, sodass der reisende Quacksalber zum Mittelpunkt der Handlung wurde. Warum der Chor bei L’elisir d’amore vollständig durch maskentragende Statisten ersetzt wird, anstatt zumindest die Stimmen auch ins Haus übertragen zu lassen, bleibt unklar. Immerhin hat dadurch die Giannetta von Erica Petrocelli mehr Solostellen, als sie es in der vollständigen Fassung hätte: die amerikanische Sopranistin verfügt über eine interessant timbrierte Stimme, die ihre stärksten Momente immer dann hatte, wenn sie die Noten nicht mit ausladendem Vibrato bedeckte.
Optisch war der Abend dank der zweifelhaften Inszenierung von Grischa Asagaroff näher dran an der Lächerlichkeit, als es selbst bei einem Melodramma giocoso der Fall sein sollte. Ein Waldstädtchen – ohne explodierende Bäume! – zusammengesetzt aus völlig unproportionierten Kulissen bzw. Requisiten und ein Plastikwildschwein, das dann und wann über die Bühne huscht – ein bisschen Ernsthaftigkeit hat sich wohl auch eine Komödie verdient. Die lustigsten Momente kamen an diesem Abend daher definitiv nicht durch die Regie zustande, sondern durch das Sängerensemble, das nicht nur stimmlich überzeugte, sondern auch mit Spielfreude glänzte.