Nach Beginn des Krieges in der Ukraine hat Tugan Sokhiev seine Ämter beim Moskauer Bolschoi-Theater und beim Nationalorchester des Opernhauses in Toulouse mit der Begründung niedergelegt, dass er nicht gezwungen werden könne, „eine kulturelle Tradition der anderen vorzuziehen“. Bei seinem umjubelten Gastspiel bei den Berliner Philharmonikern hat er dann in einem panslawisch-französischen Programm jene Vielfalt präsentiert, die offenbar doch nur in der Kunst erreichbar ist.
Antonín Dvořáks Konzertouvertüre Karneval hieß ursprünglich Leben und bildete das Zentrum einer Ouvertüren-Trilogie. Sokhiev ließ das Orchester zu Beginn die Lebensfreude in lärmenden Klängen von Blech und Schlagwerk fast übermütig feiern. Im Mittelteil entlockte er den Streichern und Bläsern silbrig-filigrane Töne, wenn im Englischhorn das Zitat „Wann, ach wann, spült die Welle des Lebens mich hinab“ aus Dvořáks Liebesliedern, Op.83 erklang. Das Orchester entfaltete ein tönendes Naturbild, in dem Solovioline und Harfe zu herabtropfenden Flötenstaccati einander umgarnten. Mit Tschingderassabum brachten die gut aufgelegten Philharmoniker das Eröffnungsstück des Abends zu seinem Ende.
Danach betrat Bruno Delepelaire, Solocellist der Berliner Philharmoniker, das Podium, um seinen Part in Éduard Lalos selten gespieltem Cellokonzert vorzutragen. Souverän meisterte er die unkonventionelle Form des Werkes, mit seiner eleganten Verzahnung kontrastierender Episoden. Delepelaire verfügt über Emphase, Eleganz und die große Geste. Darum gelang es ihm, in allen Lagen das ausgreifende Passagenwerk zu bewältigen. Er vermochte vor allem in den so warmen wie dunkleren Farben der tiefen Lagen sein Instrument geradezu singen zu lassen. Die Aufführung zeigte, wie eng Lalo die französische Eleganz mit der Übersichtlichkeit des Klassizismus nach dem Vorbild Mendelssohn Bartholdys verwoben hat. So kehrte im Allegro maestoso des Kopfsatzes die langsame Einleitung wieder, und das Intermezzo wurde knapp, luftig und konzise genommen, um die Verbindung aus gesanglichem Andante und prickelndem Scherzo innerhalb eines einzigen Satzes zu bewältigen. Im dritten Satz erklang ein turbulenter Tanz, der dem Solisten, der im ganzen Konzert fast durchgehend beschäftigt war, hohe Fingerfertigkeit abverlangte.
Wie glänzend Bruno Delepelaire sich mit seinen Kollegen versteht, wurde in der Zugabe deutlich, wenn in Marin Marais’ Passacaglia La Folia die übrigen Violoncellisten einbezogen werden.
Nach der Pause stellte Sokhiev eine eigene Schwanensee-Suite vor, die er aus Tschaikowskys Ballett zusammengestellt hatte. Wurde Tschaikowskys Musik seinerzeit dafür kritisiert, dass sie für ein Ballett „zu symphonisch“ und „zu lärmend“ sei, hat Sokhiev die gehaltvollsten Stücke der dicht gearbeiteten und glänzend orchestrierten Ballettmusik zu einer das Drama der Schwanenprinzessin Odette und ihrem ungetreuen Siegfried in eine symphonische Dichtung zusammengefasst. Man dachte zudem an ein „Konzert für Orchester“, in dem viele Musiker und Musikerinnen des Orchesters solistisch glänzen konnten. Zu einem Höhepunkt wurde der Pas de deux zwischen dem Konzertmeister Krysztof Polonek und dem Solocellisten Ludwig Quandt. Dass diese Kunststücke im Kultus großer Kunst verwurzelt waren, zeigte sich darin, dass Jonathan Kelly nicht allein inbrünstig das unsterbliche Thema Odettes auf seiner Oboe vortrug, das später im ganzen Orchester groß hervortrat. Am Ende der Aufführung, wenn das Liebespaar im See versinkt, war es mit aller Gewalt nach Dur zu zwingen. Hier kam die einst pejorativ gemeinte Formulierung der symphonischen Ballettmusik zur Erfüllung in einer Aufführung im Konzertsaal. Die Melodie erfuhr eine Wandlung, so wie das Schicksalsmotiv am Ende der Fünften Symphonie Tschaikowskys. Sie wurde nicht ironisch gebrochen, sondern mit dem Pathos dargeboten, das im Klangrausch um die Vergeblichkeit derartiger Verklärung in der Transzendenz weiß.