Vor Beginn der letzten Premiere dieser Spielzeit kündigte die künstlerische Leiterin des Nederlands Dans Theater, Emily Molnar, von der Podiumsrampe aus einen programmatischen Neuanfang an. Der neue Kurs zeige sich am deutlichsten in der vereinbarten vierjährigen Zusammenarbeit mit der Londoner Theatergesellschaft Complicité unter Simon McBurney, betonte sie. Der anschließende spannende und vielseitige Tanzabend bot in gleich drei Uraufführungen einen Vorgeschmack auf die zukünftige Programmausrichtung. Unter dem Titel Dreams 360 bündelte das NDT 1 an diesem Abend Impressionen aus dem japanischen Kabuki Theater, dem französischen Film noir und amerikanischem Ballroomdancing zu einer fantasievoll suggestiven und zugleich gesellschaftskritischen Tanztheatervorstellung.
Das erste Stück La Ruta der argentinischen Choreographin Gabriela Carrizo spielt auf dunkler nebelumhüllter Bühne. Die auch akustisch (Raphaëlle Latini) eindrucksvoll in Szene gesetzte Straße (Amber Vandenhoeck) ist nacheinander ein einsamer Waldweg, eine Dorfstraße oder eine Autobahn. Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt, einen logischen Zusammenhang muss der Zuschauer aus den verschiedenen Handlungselementen selbständig destillieren. Carrizo verbindet modernen Tanz mit Akrobatik und Slapstick, wenn sie die Tänzer mit tierhaft schnellen virtuosen Bewegungen in irrwitzigen Tempo entweder kopfüber oder rückwärts krabbeln oder schlängeln lässt. Das Ausziehen eines Schuhs wird zum Balanceakt zwischen Selbstkasteiung und clownesker Gliedmassenverknotung; ein Starkstromkabel verursacht bei zwei anderen Tänzern tödlich-spasmische Krämpfe.
Aus einem Auto steigt eine wütende Frau, die mit ihrer Handtasche der imaginären Karosserie zu Leibe geht. An einer Bushaltestelle erscheint ein traditioneller japanischer Schwertkämpfer, der alle Mühe hat, seine magisches Schwert unter Kontrolle zu halten, während seine Freundin seine komischen Bemühungen lachend kommentiert. All diese Aktionen sind verwirrend und einprägsam zugleich, da sie sich erst unter Zuhilfenahme der eigenen Fantasie zu einem sinnvollen Ganzen erschließen. Mit ihrem ungewöhnlichen, experimentellen Stil entführt uns Carrizo in eine parallele Traumwelt, die der Zuschauer zu seiner eigenen unendlichen Geschichte fortspinnen kann. Sie lässt einen nicht so schnell wieder los!
Viel kurzweiliger, aber nicht weniger überraschend war Roy Assafs erste Arbeit für das NDT, How to ruin a dance. Fünf Zuschauer wurden dazu auf die Bühne gefragt, um von den Tänzern verfasste Texte vorzulesen. „Wenn ich anfange, ein Werk zu schaffen, weiß ich nie, worum es geht.“, sagt Assaf über seine Herangehensweise. Den vier Tänzern gab er bei der zweiten Begegnung den Auftrag, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Aram Haslers Text wurde im nächsten Schritt zur Basis einer halbstündigen Collage von witzigen, ehrlichen und ironischen Erfahrungen einer außergewöhnlichen Tänzerin. In goldgefärbten Badeanzügen und zu der Musik von u.a. John Denvers Take me home tanzten Aram, Madoka Kariya, Theophilus Veselý und Jianhui Wang teilweise mit geschlossenen Augen Assafs mitreißende Choreografie auf die wechselnden Sprechtempi der freiwilligen Vorleser aus dem Publikum. Den Schluss des Stücks durfte selbst der gesamte Saal mitbestimmen. Mehr und sinnvollere Publikumsbeteiligung habe ich selten im Theater erlebt.
Höhepunkt dieses ebenso langen wie ereignisreichen Ballettabends war unzweifelhaft Figures in Extinction [1.0] von Crystal Pite und Simon McBurney. Er thematisiert den Klimawandel auf beeindruckende Weise: eine Anzahl der in den letzten hundert Jahren ausgestorbenen Tieren und Pflanzen wurde dazu von verschiedenen Tänzergruppen in poetischen Bewegungssequenzen nachgebildet. Unter Einsatz von Puppen (Toby Sedgwick), farbenprächtigen Kostümen (Nancy Bryant) und poetischen Videos (Ennya Larmit), besonders aber mit McBurneys Stimme aus dem Off evozierte das NDT mit 22 Tänzern einen traurigen Reigen von ausgestorbener Flora und Fauna, aber auch durch Menschenhand zerstörten Gletschern und Seen ins Bewusstsein seiner Zuschauer. Star dieser monumentalen theatralen Choreographie war der Amerikaner Jon Bond, der den typischen Klimawandelleugner so überzeugend tanzte, dass mir seine mit fantastisch eindeutiger Körpersprache übermittelten Argumente zum ersten Mal erschreckend einsichtig wurden. Der Glaube an göttliche Fügung und das rechthaberische Pochen auf individuelle Freiheitsrechte führen bei dieser immer noch großen Gruppe von Mitbürgern zu der unumstößlichen Überzeugung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf!