Ein brillanter Start in die zweite Aufführungsserie seiner Inszenierung der Entführung aus dem Serail – das zu erleben war dem kürzlich verstorbenen Altmeister Hans Neuenfels leider nicht mehr vergönnt. Die 1998 für Stuttgart entstandene und damals als „ikonisch“ gefeierte Produktion sorgte in der Neuauflage für die Wiener Staatsoper im Herbst 2020 für heftige Kontroversen, wobei die Buh-Rufer in der Überzahl waren. Ein Beweis dafür, dass es Formkrisen nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum geben kann.
Der Widerstand gegen diese Regiearbeit ist nämlich schwer erklärbar. Die Verdopplung von Figuren gehört mittlerweile zum etablierten Instrumentarium der Regie, aber selten funktioniert sie so gut, bietet so viel Mehrwert wie in diesem Stück, das ja ein Singspiel ist und per Definition vom Wechsel zwischen Gesang und (Schau)spiel lebt. Werden den Sängern Schauspieler zur Seite gestellt, die einen großen Teil des gesprochenen Textes übernehmen, dann kann man das zwiespältige Seelenleben der Charaktere nicht nur im Facettenreichtum von Mozarts Musik zeigen, sondern auch ihre inneren Monologe oder gar Dialoge. Dies ist auch Neuenfels‘ Textfassung geschuldet, die in Verbindung mit Personenregie und Bühnenchoreographie die Essenz jeder Situation herausarbeitet: Es gibt ein Theater auf dem Theater, und wer sich wo und wann mit wem auseinandersetzt (Sänger-Doppelgänger, Sänger-Sänger usw.) ist ebenso unterhaltsam wie intellektuell anregend. Für köstliche Momente sorgt die Beobachtung, dass in dem Stück die Paar-Konstellationen der Zauberflöte schon vorweggenommen ist, und Neuenfels auch die fernere Opernliteratur zitiert. Blonde und der ängstliche Pedrillo, der sonst in rosa Pluderhosen auftritt und dessen weibliche Seite im ersten Teil von seinem Double gespiegelt wird, bilden ein Papagena/Papageno-Duo, und in einer Szene erscheint Konstanze so selbstbewusst wie Musetta, bevor ihr ein Muff umgehängt wird…
Diese Partie war mit Met-Liebling Lisette Oropesa besetzt, die sich bereits in der ersten Aufführungsserie dieser Inszenierung beim Wiener Publikum beliebt gemacht hat. Sie verfügt über eine bewegliche, aber doch große und füllige Stimme, nur war sie an diesem Abend nicht unbedingt in Bestform. Ihre erste Arie „Ach ich liebte, war so glücklich“ ging sie etwas verhalten an, so als wäre die Erinnerung an den Geliebten schon etwas blass. Sie steigerte sich aber fortlaufend, auch wenn hin und wieder eine kleine Unsauberkeit zu bemerken war. Ganz in ihrem Element war sie bei „Martern aller Arten“, denn die leichtfüßigen Koloraturenläufe raubten nur dem Publikum den Atem.
Mit Daniel Behle stand ihr ein gewitzter Belmonte zur Seite. Sein schauspielerisches Talent ist auch an Barockopernschabernack geschult, und dass die alte Schule eine großartige ist, merkt man an auch an den tadellosen Koloraturen und Behles geradezu countertenorhaftem Talent, mit dem er seinen Tenor für den einen oder anderen Effekt in die Kopfstimme verlängert. Mit Michael Laurenz, dem Staatsopernfaktotum für Komödiantisches im Tenorfach, hatte er auch einen kongenialen Pedrillo zur Seite. In der Vergangenheit hat er mehrfach bewiesen, dass er auch in einen lauen Repertoireabend Schwung und Stimmung bringen kann, und in der Neuenfels-Inszenierung läuft er im Tandem mit seinem szenischen Alter Ego zur Höchstform auf. Er kann aber nicht nur „Spieltenor“, denn die Romanze vom „Mohrenland“ war nicht nur klanglich schön, sondern mit einem liedhaften Beginn und feiner Dynamik klug aufgebaut.
Regula Mühlemann ist immer ein Erlebnis, unweigerlich denkt man bei ihren Darbietungen an Mozarts Diktum von der „geläufigen Gurgel“. Sie hat aber auch eine gefällige Sprechstimme, und mit Witz, Selbstbewusstsein und Bühnenpräsenz ist ihre Blonde der Fledermaus-Adele nicht unähnlich. Osmin war mit Tobias Kehrer ebenfalls bestens besetzt, nur waren er und Antonello Manacorda am Pult bei „Ha, wie will ich triumphieren“ zunächst nicht ganz einig über das Tempo. Davon abgesehen beeindruckte er mit seiner gewichtigen, aber beweglichen Stimme. Er hat auch den Mut, das Hässliche bis Dumme an dieser Figur so zu betonen, dass es schon wieder sympathisch ist. Den schauspielenden Doppelgängern der erwähnten Sänger*innen sei pauschales großes Lob ausgesprochen.
Christian Nickel in der Sprechrolle des Bassa Selim scheint das großmütige Finale im Frack näher zu liegen als die Mischung aus veritablem Todernst und Klamauk davor. Schade nur, dass die Stimme im Laufe des Abends zunehmend belastet schien, doch hatte sie genug Substanz, die Bürde eines Gedicht-Vortrags zum Schluss mit Würde zu tragen. Dieser Gedicht-Schluss ist die einzige Schwäche dieser Inszenierung. Er dient wohl dazu, die Figur des geläuterten Selim durch eine seelisch-poetische Verdopplung auf die Ebene des singenden Personals zu heben, hat aber nach der vorhergehenden Dynamik die Wirkung eines Anti-Höhepunkts.
Dadurch fiel der Schlussapplaus anfangs etwas verhaltener aus, als es die Stimmung des Abends bis dahin versprach. Bis zur Verbeugung der Solisten und des Dirigenten steigerte sich der Applaus jedoch gewaltig. Insbesondere Antonello Manacorda erntete für die spritzige und doch umsichtige Gestaltung von Mozarts Partitur ebenso viel Zuspruch wie das Staatsopernorchester für die präzise und feinfühlige Umsetzung. Der Janitscharen-, pardon, Staatsopernchor bot (bis auf die auf Stangen aufgespießten Köpfe und Säuglinge beim ersten Auftritt) ebenfalls Erfreuliches. Fazit: „Welche Wonne, welche Lust“