33 zu 8! Was aussieht wie ein Fußball-Ergebnis, sind Aufführungsquoten zweier Opern in Bachtracks Review-Datenbank: für Henry Purcells deutlich häufiger gespielte Dido and Aeneas und das nur selten realisierte Monodram Erwartung von Arnold Schönberg. Wobei nur drei der acht Schönberg-Treffer von wirklich szenischen Produktionen stammen. Auch die Bayerische Staatsoper hat Schönbergs Rarität zum ersten Mal im Programm; in München gab es immerhin vor acht Jahren schon eine konzertante Aufführung des BRSO im Gasteig mit Evelyn Herlitzius und Daniel Harding.

Aušrinė Stundytė (Dido)
© Bernd Uhlig

Zu Problemen und Chancen solcher Kurzopern gehört, dass die Gegenüberstellung den Blick auf neue Perspektiven öffnen kann, statt scheinbar wenig Verbindendem oft vergleichbare Psychogramme aufgespürt werden. Dies ist das Anliegen des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, der die beiden Opern, zeitlich mehr als 230 Jahre auseinander, in München in eine gemeinsame Inszenierung bettet, für die er einen gewohnt modernen, mit Videofilm-Unterstützung erhellenden Rahmen schafft.

Victoria Randem (Belinda) und Günter Papendell (Aeneas)
© Bernd Uhlig

Dass Dido, Königin im nordafrikanischen Karthago, sich in den Trojaner Aeneas, auf der Flucht aus Troja nach Latium, wo er zum Stammvater der Römer wird, unglücklich verliebt, ist Stoff aus Vergils Aeneis-Epos; er wird aus seinem historisch-geographischen Umfeld herausgelöst. Nicht nur der dicht gearbeitete, geradlinige dramatische Verlauf des Stücks und die psychologische Komplexität der Charaktere berühren heute noch, sondern auch das Thema einer Liebesbeziehung, die von unerbittlichen Schicksalsmächten zerstört wird. Warlikowski macht Flucht und die Suche nach den Geliebten zum gemeinsamen Thema beider Plots: auch Dido ist – wie Aeneas – eine Geflüchtete. Man weiß nichts über sie, außer dass sie von weither kommt, sich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Phantasie bei ihr vermischen, dass man nicht erkennt, ob die mysteriösen Geister und Hexen, die zeitweise auftauchen, den Wald oder ihren Geist bewohnen. Der Mann, in den sie sich gerade verliebt, verlässt sie. In Erwartung des Wiedersehens gleichfalls: Schönbergs namenlose Frau durchquert angstvoll den nächtlichen Wald, gelangt schließlich auf eine Straße, wo sie die Leiche ihres ermordeten Geliebten vorfindet.

Aušrinė Stundytė (Dido) und Victoria Randem (Belinda)
© Bernd Uhlig

Małgorzata Szczęśniaks eindrückliche Bühne sind einige Baumstämme, die im Verlauf mit dem winterlichen Wald einer Video-Projektion verschmelzen, ebenso blattlos und kahl wie vom Baumsterben gezeichnet; langsame Zoomfahrten (Video: Kamil Polak) und dichter Schneefall suggerieren zunehmende Kälte, vielleicht gar von Beziehungen zu den Umgebenden, die bei Purcell Teil einer böse intriganten, glamourös bunten Hexentruppe sind. Ein schräg auf der Bühne stehender fensterreicher Container, großzügig möbliert wie amerikanische Reisemobile, ist ein Rückzugsort für die Personen; eine weitere Video-Installation liefert laufend Bilder aus dem Raum, rückt fast unangenehm nahe an die Figuren und ihren inneren Kampf heran.

Wesentlicher Teil von Warlikowskis Interpretationsansatz ist, die zentrale Frauengestalt beider Opern von einer Künstlerin darstellen und singen zu lassen. Die litauische Sängerin Aušrinė Stundytė, in München zuletzt in Reimanns Lear und Pendereckis Die Teufel von Loudun zu erleben und bislang hauptsächlich im dramatisch spätromantischen Repertoire unterwegs, hatte wohl erstmals einer frühbarocken Opernrolle Stimme und Gestalt zu geben. Kurzes Glück, Melancholie und tiefen Schmerz konnte Stundytė mit höchstmöglicher Sogkraft entfalten, dabei die meist nur knappen Sequenzen vom ersten Ton an mit größter Dichte ihres Spiels füllen. Einzig die vibratoreiche Tongebung ihrer voluminösen Sopranlage fügte sich nicht immer passend in Purcells eher schlank gewählten Ariensatz.

Dido and Aeneas / Erwartung
© Bernd Uhlig

In der bis in die Nebenrollen exzellent besetzten Produktion mit tonpoetischen Spannungs- und Entspannungsbögen, die den hintergründigen Umfang dieses kurzen Dreiakters verblüffend zur Geltung bringen, begeisterten dazu Günter Papendell als Aeneas sowie Victoria Randem als Didos Gefährtin Belinda. Der amerikanische Countertenor Key'mon Murrah setzte in der ohnehin schillernd vielfältigen Geisterschar als männliche Hexe zusätzliche kurios bizarre Akzente. Der Tänzer und Schauspieler Claude Bardouil hatte eine gefühlvoll ausstrahlende Bewegungsregie für Sänger und Opernballett ausgearbeitet.

Für den Dirigenten Andrew Manze ist diese Produktion sein Hausdebüt. Mit dem bewundernswert flexiblen Staatsorchester fand er eine Balance, klangliche Authentizität selbstbewusst neben den dramaturgischen Fluss zu stellen. Aus dem Graben heraus tönte auch der Chor der Staatsoper in hervorragend tonaler Einmischung.

Erwartung
© Bernd Uhlig

Atemberaubend hatte Stundytė im berühmten „When I am laid in earth” ihre Ruhe gefunden, Aeneas und die Tänzer*innen sich einzeln still von der Toten verabschiedet. Unmittelbar leitete ein Interlude von Paweł Mykietyn weiter in einen völlig andersartigen, unmittelbar anspringenden Breakdance: zu E-Gitarre und magischen elektronischen Klängen, die den Umbau im Orchestergraben überspielen und szenisch-choreographisch Handlung und Atmosphäre wie im Zeittunnel fantasiereich weiterführten. Dido wickelt sich aus dem Leichentuch, mutiert zur depressiven Frauengestalt in Schönbergs Erwartung. Die noch im Haus liegenden toten Belinda und Aeneas werden zu den grausigen Funden, die Stundytė in ihrem Psycho-Albtraum macht, wiederum in dichtem Schneegestöber. Die Übertitelung erlaubt es glücklicherweise, die Texte zu verstehen. Musikalisch noch vor der Zwölftonperiode in Schönbergs Schaffen gelegen, fesseln dazu die Querverbindungen zu Freud und der Psychoanalyse, die Marie Pappenheim 1909 in ihrem Textbuch transportierte. Manze ließ die Orchestermassen in äußerst nuancierten Klangfarben leuchten; meisterhaft bewältigte Stundytė dieses höllisch schwere Stück, verkörperte die Qualen zwischen Eifersucht und Einsamkeit, Aggression und Verletzbarkeit. Mit dramatisch eingesetzten Spitzentönen baute sie die nervenzehrende Spannung auf, die bis zur letzten Sekunde Bestand hatte, in ihrer Unerbittlichkeit aufwühlend war. Trotz ungewohnter Zutaten: ein umjubelter Abend mit 100% Faszinations-Potential!

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