Während die Bayreuther Festspiele coronageplagt mit vielen Besetzungsänderungen bis kurz vor der Festspieleröffnung zu kämpfen hatten, hatte die Festspielleitung für den Fliegenden Holländer und den „zurückgetretenen“ John Lundgren zumindest genügend Zeit, mit Thomas J. Mayer einen erfahrenen Ersatz zu finden. In der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, die nun im zweiten Jahr aufgeführt wird, treten die übrigen Solist*innen bei der Wiederaufnahme wie vorgesehen auf, jedoch in einer sich zum Vorjahr unterscheidenden Besetzung, sodass interessante Vergleiche gezogen werden können.
Die eingeschworene Dorf- oder Stadtgemeinschaft, die ausgrenzt, vor-urteilt und verurteilt und sich dadurch mitschuldig der Konsequenzen macht, ist ein wiederkehrendes Sujet bei Wagner – ob im Lohengrin, Holländer oder bei den Meistersingern – Ausgrenzung ist für viele Regisseur*innen wichtiger Dreh- und Angelpunkt vergangener Inszenierungen.
Tcherniakov beleuchtet die Dynamiken solcher Handlungen und verwebt in seiner Produktion nicht nur Familiendrama, Rache-Epos und Kleinstadt-Tristesse, sondern bringt die Oper zusätzlich mit seiner eigens erfundenen Vorgeschichte um die Mutter des Holländers, auf die Bühne.
Verwickelt in eine Affäre mit Daland – zwischen anfänglicher Leidenschaft und späterer Zurückweisung – wird sie von der Gemeinschaft der Kleinstadt, die davon natürlich schnell Wind bekommt, ausgegrenzt. Mit fatalen Folgen. Der Freitod seiner Mutter wird zum einschneidenden und ihn albtraumhaft verfolgenden Erlebnis. Statt den ihn von seinem Trauma befreienden und in der Liebe erlösenden Engel zu finden, wird er selbst zum Racheengel.
Und auch zwischen Senta und dem Holländer spinnt er sich eine recht ungewöhnliche Geschichte zurecht. Statt der ergreifenden „treu bis in den Tod“-Liebesgeschichte zwischen den beiden, fokussiert er sich auf den ihn stets antreibenden Hass als alleiniges Motiv seiner Handlungen.
Thomas J. Mayer stellte den Holländer als kaltherzigen, von Wut zerfressenen, nach Rache trachtenden Mann dar. Stets souverän, mit zurückhaltender aber entschiedener Mimik und Gestik vermochte er die Rolle überzeugend darzustellen. Stimmlich wartete der Bassbariton mit herber, kraftvoller Stimme auf, aber – trotz deutlicher Artikulation – mitunter mit nicht genügend differenzierter Ausgestaltung.
Im Duett mit dem Bass Georg Zeppenfeld stellte dieser ihn daher in den Schatten. Zeppenfeld, seit vielen Jahren ein Garant für erstklassige Darbietungen in jeglicher Hinsicht, setzte seine Stimme überaus wandlungsfähig ein: mal schlank und agil, mal überraschend voluminös und breit. Jedoch stets überzeugend und mit perfekter Diktion.
Die norwegische Sopranistin und Bayreuth-Debütantin Elisabeth Teige trat in der Rolle der Senta ein großes Erbe an, wurde ihre Vorgängerin Asmik Grigorian letztes Jahr für ihre Darbietung sehr umjubelt. Davon unbeeindruckt bewies sie bereits bei den ersten Tönen, dass sie ihr in nichts nachsteht. Bestimmt, mit fester Stimme und gesanglich perfekter Ausführung, dennoch nicht ohne Gefühl, strahlte ihr Sopran Wärme und Leidenschaft aus. Auch szenisch überzeugte sie als aufsässige Tochter, sich nichts sehnlicher wünschend, als aus der bornierten, kleinbürgerlichen Scheinidylle auszubrechen, wobei ihr jedes Mittel recht scheint.
Eric Cutler war eine szenisch wie stimmlich ideale Besetzung für die Rolle des Erik. Passioniert, mit feinem Gespür für die Gesangslinien seiner Arien und die kurzen, dennoch intensiven und wirkungsvollen Auftritte, gestaltete er die oft als undankbar verschriene Partie zu einer der hörenswertesten des Abends. Nadine Weissmann als Mary und Attilio Glaser als Steuermann rundeten dieses hervorragende Ensemble ab.
Oksana Lyniv und die Musiker*innen des Bayreuther Festspielorchesters vermochten die Besonderheiten und mitunter Schwierigkeiten des tiefen Grabens im Festspielhaus gekonnt überwinden. Statt in einen schnell allzu einheitlich klingenden Mischklang zu verfallen, wusste Lyniv stets Akzente zu setzen und überzeugte mit einem effektvollen, lebendigen Dirigat. Ohne diese Effekte zu übertreiben brachte sie die musikalische Vielschichtigkeit der Holländer-Partitur eindrucksvoll dar. So verzieh man auch die nicht immer perfekten Einsätze des Festspielchors, der dennoch in geballter Stahlkraft und äußerster Homogenität auftrat.
Die bisweilen hopperesquen Szenen von urbaner Einsamkeit und der trostlosen Monotonie städtischer Architektur – nicht zuletzt beim ersten Kennenlernen zwischen dem Holländer und Senta in Dalands Wintergarten – lassen die Personen gleichzeitig eingeschlossen und entblößt erscheinen, während der Zuschauer zum Voyeur bröckelnder Familienträume wird. Doch zum Schluss wird aus der bieder anmutenden Szenerie ein spannender Thriller. Nachdem der Holländer in die Menge schießt, die Stadt anzündet und diese ins Chaos stürzt, muss er letztlich doch mit ihr untergehen. Dem Rächer wird der Garaus gemacht: So ist es überraschenderweise Mary, die ihm beherzt mit der Flinte erschießt – ein großer Knall zum Finale!
Tcherniakov kann mit seiner Inszenierung auch im zweiten Jahr nicht vollends überzeugen, so fehlt ihr über gewisse Strecken die Spannung. Dennoch ist ihm seine eigenwillige Deutung anzurechnen, die einen ungewöhnlichen Blick und selten verfolgten Deutungsansatz auf den Holländer-Mythos wirft. In ein paar Wochen führt er den Ring des Nibelugen an der Staatsoper Berlin zur Premiere und mit Sicherheit wird dieses Opus Magnum wieder seinen so einzigartigen Stempel tragen.