Aufruhr, Umbrüche, Gewalt – wie ein roter Faden ziehen sie sich durch die Menschheitsgeschichte. In ihrem ersten Konzert unter Chefdirigent Kirill Petrenko nach der Saisoneröffnung widmen sich die Berliner Philharmoniker ganz der Musik der Nachkriegsmoderne und stellen die Hoffnung in den Vordergrund. Doch wie ein Blick in die Geschichte zeigt: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg – und so sind die Werke des Abends, all voran Luigi Dallapiccolas Il prigioniero (Der Gefangene), aktuell wie eh und je.

Kirill Petrenko
© Bettina Stöß

Dallapiccolas Kurzoper vorangestellt waren gleich zwei Stücke geprägt von den Folgen von Krieg und Totalitarismus. Den Abend eröffnete Iannis Xenakis Empreintes. Unisono auf einem Ton beginnen die Blechbläser das Stück, später übernommen von den Streichern. Scheinbar ewiglich hallt er durch das weite Rund der Philharmonie. Er ebbt und fließt. Wie von Geisterhand tauchen Spuren auf, verschwinden. Nah und fern sind sie gleichermaßen. Mit stenografischer Akkuratesse formten Dirigent und Orchester das Stück, unaufhörlich und morsehaft schienen die Bläser voranzuschreiten, ehe das Kontrafagott einen humorigen Schlusspunkt setzte. Unwillkürlich fragt man sich: Gibt es doch noch Hoffnung in dieser eintönigen Welt?

Einen ebenso feinen aber umso explosiveren Klangteppich webten Dirigent Petrenko und seine Philharmoniker auch im zweiten Werk des Abends, der Sinfonie in einem Satz von Bernd Alois Zimmermann. In ihr verarbeitet der Komponist die Gegensätze des Nachkriegsdeutschlands. Mal schimmern die gesellschaftlichen Aufbrüche und Zerwürfnisse leise, mal donnern sie laut. Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent schafften eine gespannte Oberfläche, unter der immer etwas zu brodeln schien. Besonders kehrten sie die Hoffnung gebende Cello-Cantilene zum Ende des Stückes heraus. Doch ganz verjagen konnte auch sie die im Hintergrund schwirrende Angst und Gefahr nicht.

Wolfgang Koch
© Bettina Stöß

Hoffnung und Gewalt standen auch im Mittelpunkt des Hauptwerkes des Abends. Namenlos ist er, der Gefangene in Dallapiccolas Il prigioniero, inhaftiert in den Kerkern der spanischen Inquisition. Es ist ein auf seine Grundelemente heruntergebrochenes Drama, eine Studie der (Un-)Menschlichkeit, erzählt in Monologen und Dialogen von dem Gefangenen (Wolfgang Koch), seiner Mutter (Ekaterina Semenchuk), dem Gefängniswärter und schließlich mit dem Großinquisitor (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke). Wie so oft ist es die Hoffnung, genährt durch den scheinbar wohlwollenden Kerkermeister, die zuletzt stirbt. Eine knappe Stunde lang flimmert und flackert sie auf. Doch als der Gefangene dem dunklen Verlies mit Hilfe des Kerkermeisters zu entkommen scheint, erkennt er nicht die Freiheit am Ende des Tunnels, sondern in seinem scheinbaren Retter den Großinquisitor. Die Hoffnung ist zum schlimmsten aller Foltermittel geworden.

Ekaterina Semenchuk
© Bettina Stöß

In einer feinen Balance aus Präzision und emotionaler Intensität untermalten Petrenko und das Orchester die Geschichte. Immer wieder gaben sie Momenten der Hoffnung Platz, zeichneten sanfte und nach innen gerichtete Bilder, ehe sich im nächsten Moment martialische Explosionen der Grausamkeit ihren Weg bahnten. Ihnen zur Seite stand der Rundfunkchor Berlin, der mal gottesdienstgewaltig auf der Bühne, mal engelsgleich von außerhalb des Saals die Handlung begleitete. 

Zerrissen zwischen Zuversicht und Qual gestaltete Koch seine Rolle als Gefangener. In feinen Nuancen ließ er das Publikum am Martyrium seines Charakters teilhaben. Durchdringend ist des Gefangenen letzte Frage nach der Freiheit, in der man in Kochs Stimme das Sterben der Hoffnung zu hören schien. Semenchuk zeigte sich als leidenschaftliche Mutter gezeichnet von lähmender Angst und mit eindringlichen Klagerufen. Sichtlich Freude hatte Ablinger-Sperrhacke an seiner diabolischen Doppelrolle als Kerkermeister und Großinquisitor. In seinen Auf- und Abtritten zeigte er sich als wahrer Sängerdarsteller und gab seiner Rollen einen mimischen Anstrich. Gesanglich war er ein verführend-hinterhältiger Bösewicht, der unwillkürlich an die Banalität des Bösen denken ließ und wie sie sich in so vielen Episoden der Geschichte zeigt.

Wolfgang Ablinger-Sperrhacke
© Bettina Stöß

Dallapiccolas Il prigioniero spielt in der Zeit Felipe II während der spanischen Inquisition, doch ist die Darstellung inhumaner Machtpolitik und des menschlichen Leids erschreckend unvergänglich. Der Gefangene ist ebenso religiös wie politisch verfolgt; er ist nicht nur Protestant, sondern sympathisiert mit dem Aufstand in den Spanischen Niederlanden. Er ist namenlos, zeitlos. An jeden Ort, in jede Epoche könnte man ihn versetzen. Auch in die heutige. Dieser Abend in der Philharmonie war ein zutiefst politischer und aktueller, der kleine Lichtblicke und Hoffnungsschimmer in den Mittelpunkt rückte. 

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