Was für ein Finale! Während die Musik von Toshio Hosokawa aushaucht, eine Musik, die ohnehin über weite Strecken mehr ein akustisches Ahnen denn ein orchestrales Aufbäumen war, eine Meisterleistung der leisen Töne, der Introvertiertheit, sitzen oder stehen die Tänzer fast nur noch reglos auf der Bühne, mit hängenden Köpfen – ein Bild der absoluten Trostlosigkeit im Sinne des Wortes. Hier ist keine Hoffnung mehr, kaum ein Zeichen von Lebensbejahung.
Für das Stuttgarter Ballett hat Martin Schläpfer zu den fünfzehn Minuten von Hosokawas Seascapes of Fukuyama eine tänzerische Endzeitvision geschaffen mit Bildern, die man so schnell nicht vergisst. Immer wieder sinken die Menschen einander in die Arme, entsetzt ob der Aussichtslosigkeit. Tänzerinnen schweben in steifer, lebloser Körperhaltung auf schnellen Spitzentrippelschritten nach hinten. Sollte man eine Farbe für diese Choreographie benennen, wäre sie farblosestes Grau. Dass Schläpfer es nicht bei diesem Inbild des Pessimismus belassen wollte, ist verständlich. Ob die Wahl von Schuberts heiterer Dritter Symphonie allerdings das geeignete Gegenbild liefert, kann man bezweifeln. Schläpfer ist hierzu auch nicht entfernt so Eindringliches eingefallen wie zum Schlussteil seines Balletts. Über weite Strecken entwirft er eine heitere Szenerie, die vage an Biedermeierszenen aus der Malerei erinnern, auch wenn die Kostüme zeitlos sind. Da gibt es Annäherungen zwischen Frauen und Männern, Berührungsängste, aber auch gelungene Paarungen. Schläpfer arbeitet unterschiedliche Charaktere heraus – den unbeschwerten Bonvivant, die schüchterne Schöne, die leicht zickige, aber dann doch dem Herrn ihres Herzens Zugetane, doch viel mehr an Substanz ist in der Hauptszene des Stücks kaum – wären da nicht die Passagen zwischen den einzelnen Musiksätzen. Hier geht der Tanz weiter, führt aber in andere Dimensionen. Hier kündigt sich bereits die Verzweiflung an, die sich dann im Schlussteil Bahn brechen wird. So steht zu Beginn ein einzelner Tänzer auf der Bühne, den Kopf verzweifelt in die Arme gepresst, als wolle er mit der heiteren Welt seiner Genossen nichts zu tun haben, und die übrigen Passagen zwischen den Symphoniesätzen führen diese depressive Tendenz weiter. So ist ein Stück über Freud und Leid des Lebens entstanden – Taiyō to Tsuki, so der Titel, Sonne und Mond – doch ist die Symphonie doppelt so lang wie Hosokawas Stück, das damit in die Nebenrolle abgedrängt wird. Wenn Schläpfer sich bei Schubert auf den Kopfsatz beschränkt hätte, wäre das Stück in sich geschlossener gelungen.
An Geschlossenheit mangelt es dem neuen Stück von Louis Stiens, Messenger, nicht, das liegt schon an der Musik. Er wählte das Violinkonzert „Follow Me” von Ondřej Adámek, ein Stück mit einem Programm: Es geht um die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Menge, zwischen einem „Führer“, so der Komponist, und einer Menschenmenge, musikalisch gesprochen zwischen der Solovioline und dem Orchester. So steht bei Stiens zu Beginn ein Tänzer auf der Bühne, der sich seiner selbst vergewissern will. Vorsichtig betastet er seine Gliedmaßen, versucht sie mit den Händen in bestimmte Positionen zu bringen, als versuche er, sich das mögliche Bewegungsrepertoire des Körpers beizubringen, eine körperliche Meisterleistung von Shaked Heller.
Ganz anders die Bewegungen der Gruppe. Hier geht alles harmonisch, quasi wie von selbst, hier reflektiert niemand über sein Tun – bis aus der Gruppe eine oder einer allein ist und den Halt der Gruppe nicht mehr hat. Da kommt Unsicherheit auf – eine faszinierende Studie über die stützende Funktion einer Gruppe für den Einzelnen. Doch Gruppenhomogenität birgt neben Sicherheit für das eigene Verhalten zugleich auch Verlust der Individualität. In dieser Situation kommt der „Führer“ hinzu und beginnt, dem Einzelnen „Unterricht“ zu geben, und er tut das behutsam, schließlich nennt Stiens diese Gestalt nicht „Führer“, sondern „Botschafter“, eine sehr viel positivere Bezeichnung. So entstehen Abhängigkeiten, die mal in eine neue Sicherheit führen – Stiens entwickelt dafür eindringliche Bewegungsmuster und Konstellationen – die aber auch scheitern können. Das ist spannend, allerdings besteht das Stück letztlich aus zu vielen Wiederholungen desselben Grundmusters, auch wenn diese Wiederholungen variiert werden. So wirkt sich das Konzept letztlich ein wenig lähmend aus.
Das lässt sich vom ersten Stück des Abends nicht behaupten. Douglas Lees Musikauswahl ist zwar bei Weitem nicht so aufregend wie die der beiden anderen Choreographen des Abends, gelegentlich wirkt sie fast geschmäcklerisch schön. Doch was Lee dazu auf der Bühne erfunden hat, ist faszinierend. Wie bei Stiens beherrscht auch hier eine einzelne Tänzerfigur die Bühne. In einem riesigen Reifrock aus wallendem schwarzglänzendem Stoff zieht eine Tänzerin langsam über die Bühne, deren Hintergrund ebenfalls mit demselben Stoff ausgekleidet ist. Die Assoziation von Meer liegt nahe, schließlich nannte Lee sein Stück Naiad, siedelt es so im Bereich des Mythischen an, und genau darum geht es. Während diese Najade immer wieder aus einem Gedicht von Alfred Tennyson zitiert, in dem es um einen Kraken geht, kontrastieren hier zwei Welten: Die der Menschen, die sich in diesem Ambiente des Nassen, Bedrohlichen bewähren müssen und es oft in Gemeinsamkeit auch schaffen, und dem Schicksal, verkörpert durch die Najade, das sich um das Treiben der Menschen nicht schert. Faszinierend gelingt es Sinéad Brodd, diese emotionslose Souveränität gegenüber den anderen mit extrem ruhig fließenden Bewegungen deutlich zu machen. Am Ende obsiegt das Schicksal, die Menschen entschwinden hinten – im Meer oder im Nichts? Die enigmatische Figur, die in ihrem Reifrock wirkt wie eine überdimensionale Qualle, bleibt ungerührt von deren Überlebensversuchen. Aus tänzerischer Bewegung, Kostüm und Beleuchtung ist Lee ein in sich geschlossenes Werk gelungen, in dem nichts beliebig ist, keine Bewegung fehlen darf, ein Meisterwerk, dessen optische Brillanz nicht von der Tiefe der dahinter liegenden Gedanken ablenkt: eindringliche Dramatik.