Die erste Creation am Stuttgarter Ballett beginnt, noch ehe auch nur ein Tänzer die Bühne betreten hat, und doch ist bereits ein Bewegungskünstler da: der Musiker, der Perkussionist Marc Strobel. Er beginnt, mit den Handflächen auf einer großen Rahmentrommel umherzustreichen, der feine Klang wird elektronisch verstärkt, es kommen die Fingernägel hinzu, später klopft er auf das Instrument und nimmt schließlich auch die Sticks zur Hand. Mit dieser sich im Dunkel schattenhaft abzeichnenden Musikerfigur ist man schon mitten im Tanz. Die eigentliche Choreographie beginnt dann mit einer einzelnen Frau, die Schritt für Schritt auf einer schrägen Lichtbahn ihren Weg über die Bühne beginnt. Wenn das Stück vorüber ist, wird sie das Ende erreicht haben und seitlich verschwinden. Dazwischen entwickelt sich ein hochkomplexes Geflecht von Schritten, Bewegungen und daraus resultierenden Beziehungen – mal nur als Pas de deux, mal als Gruppenaktion.
Roman Novitzky bringt keine Handlung auf die Bühne, und doch versteckt sich in seinem Stück ein regelrechtes Menschheitsdrama, das um Fragen der Begegnung, der Ablehnung und der Notwendigkeit kreist, wie sehr der Mensch den anderen braucht, nicht um Wärme und Geborgenheit zu erfahren, sondern um Anregungen zum Leben, und das heißt hier, zur Bewegung zu erhalten. Impuls nennt Novitzky sein Stück treffenderweise. Der allererste Impulsgeber ist der Trommler, eine Art Vortänzer. Die übrigen Akteure scheinen geradezu auf seine rhythmischen Befehle und Anregungen zu warten, entwickeln daraus aber gewissermaßen in Eigenregie weitere Bewegungsmuster, führen den Initialimpuls zu neuem Leben weiter. Diese Anregungen vom Musiker funktionieren auch dann, wenn er sein Instrument vorübergehend verlässt und nur mit den beiden Sticks in den Händen pantomimisch Bewegungsimpulse gibt. Zugleich aber scheinen die Tänzer auch auf ihn zurückzuwirken. Es ist ein Geben und Nehmen. Am Ende schweigt die Musik. Die Tänzerin schreitet allein weiter, blickt sich um, als wollte sie fragen: War da etwas? Ja, ein Meisterwerk von knapp dreißig Minuten.
Ganz anders Andreas Heise. Er nahm sich für sein Lamento die Odyssee als Vorlage, aber erfreulicherweise nicht die verschiedenen Etappen der Irrfahrt, sondern angeregt von Claudio Monteverdis Oper Il ritorno d'Ulisse die Frage, was bei so langer Abwesenheit mit den beiden Partnern geschieht. Am Anfang zeigt er sie noch glücklich vereint vor der großen Trennung, in hellrotem Gewand jugendlich unbeschwert, glücklich. Dann lässt er schlaglichtähnlich anklingen, was während der Abwesenheit der Geliebten geschieht: Odysseus auf dem Schiff, angedeutet durch eine Tänzerin auf den Schultern des Seefahrers, als suche sie nach Land, unterdessen die wartende Ehefrau Penelope, die gleichwohl nicht untätig ist, muss sie sich doch der zahlreichen Bewerber erwehren.
Beide werden, insofern hält sich Heise sehr genau an die literarische Vorlage, von Göttin Athene geleitet, mal behutsam als Anregerin, mal deutlich aktiver als Führerin. Dazwischen immer wieder die rotgewandeten Protagonisten als Paar: In der Mitte des Stücks farblich deutlich dunkler: das erträumte Wiedersehen, am Ende, in fast schon violettem Umhang: das ersehnte Wiedersehen in reifem Alter. Das ist nicht die tänzerisch nacherzählte Odyssee, dafür wäre die Handlung allzu dünn, es ist vielmehr das Nachspüren dessen, was in den Menschen geschieht, die wissen, was sie sich wünschen, aber nicht wissen, ob es ihnen zuteil wird.
Ähnlich konkret ist die thematische Vorgabe, nach der Fabio Adorisio seine Calma Apparente kreiert hat. Sein Ausgangspunkt war ein italienisches Sprichwort: „Stendere un velo pietoso“, was so viel heißt wie einen Schleier des Mitleids über etwas breiten, etwas Unangenehmes, Verhüllenswertes. Thomas Mika hat dafür ein handlungstragendes Bühnenbild geschaffen. Zu Beginn hängt ein grauer gefältelter Vorhang über einer Stange wie eine Grenzmauer oder auch wie ein Schleier, der den Durchblick verwehrt. Darin schält sich zu Beginn eine Frau aus einem riesigen Glockenrock, derweil sich unter dem Mauerschleier weitere Tänzer kriechend auf die Vorderbühne wagen. Was nun einsetzt, ist ein regelrechter Kampf um Eigenständigkeit, aber auch um Gemeinsamkeit. Vage angedeutet werden Animositäten, aber auch Sehnsüchte. Adorisio schuf eine Vielzahl an Gesten und Schritten, die letztlich alle um die Frage nach einem Miteinander oder auch Ohneeinander stellen. Da wollen immer wieder Tänzerinnen stürmisch vorwärts und werden von den Partnern mit der Hand an ihrer Stirn gehindert, Gesten, die widersprüchlich zu deuten sind – entweder als Versuche, die Emanzipationsversuche der Frauen zu verhindern, oder aber als fürsorgliche Mahnungen, einen allzu forschen Bewegungsdrang einzudämmen.
Im Programmheft deutet Adorisio an, dass es ihm damit um Themen wie Umweltzerstörung geht, um bedrohten Lebensraum. Dazu passt der wie ein Gebirge wirkende grau gefältelte Tuchvorhang, der freilich über weite Strecken nach oben hin verschwunden ist, um am Ende dann krachend wie eine Naturkatastrophe auf die Bühne zu fallen. Doch das sind konkrete Assoziationen, die sich aus dem Tanz nicht unbedingt ergeben. Hier geht es um reine Choreographie, die perfekt aus der Musik heraus geboren ist: Keine musikalische Wendung bleibt unberücksichtigt, ohne dass der Tanz einfach nur die Musik illustrieren würde. Adorisio gelingt es, Musik in Bewegung neu zu kreieren. Gegen Ende hin wird sie immer hektischer, von nur zwei Tänzern umgesetzt, die übrigen stehen reglos da, was die kämpferische Dramatik nur noch verstärkt. Am Schluss dann nahezu paradiesische Ruhe zu einem von Wilhelm Kempff auf dem Klavier interpretierten leisen Menuett von Händel. Umweltassoziationen sind unnötig, der Tanz reicht vollkommen.