Woran mag es liegen, dass die Aufführung einer weitgehend unbekannten Oper eines mäßig bekannten Komponisten noch bei der Dernière vor ausverkauftem Haus stattfindet? Die Rede ist von Eliogabalo des venezianischen Barockkomponisten Francesco Cavalli am Opernhaus Zürich. Die Gründe liegen zum einen im musikalischen, zum andern im außermusikalischen Bereich. Die musikalische Sensation besteht darin, dass das Stück eine Neuentdeckung unserer Zeit ist. Die Oper, die Cavalli für die Karnevals-Saison 1668 komponiert hatte, ist damals nämlich gar nicht aufgeführt worden, sondern landete in der Schublade. Intrigen, stilistische, politische oder moralische Gründe mögen dafür verantwortlich gewesen sein. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurde das Manuskript von Eliogabalo wiederentdeckt. Nach der Uraufführung von 1999 bewirkte dann die musikalisch wegweisende Produktion unter der Leitung von René Jacobs in Brüssel, Innsbruck und Wien eine Serie weiterer Aufführungen in Europa und Nordamerika.

Siobhan Stagg (Anicia Eritea) und Yuriy Mynenko (Eliogabalo)
© Monika Rittershaus

In Zürich wollte man da nicht hintanstehen und betraute den Alte-Musik-Spezialisten Dmitry Sinkovsky und den Skandal-Regisseur Calixto Bieito mit der künstlerischen Realisierung. Und letzterer ist dafür verantwortlich, dass die Zürcher Produktion auch Menschen anzieht, die nicht als Opernfans im engeren Sinn bezeichnet werden können. Bieito reitet – um es kurz zu sagen – mit seiner Inszenierung auf einer Modewelle unserer Zeit.

Eliogabalo
© Monika Rittershaus

Um was geht es inhaltlich? „Held” der Oper ist der berüchtigte römische Kaiser Varius Avitus Bassianus, der sich, in Anlehnung an einen syrischen Sonnengott, Elagabal nannte. Er kam als Jüngling auf den Thron und wurde bereits als 18-Jähriger ermordet. Verschiedene historische Quellen schildern ihn als unfähig, vergnügungssüchtig, größenwahnsinnig, bisexuell und als brutalen Vergewaltiger. Cavalli und sein Librettist interessierten sich vorwiegend für die sexuellen Schandtaten des Kaisers. Zu Beginn der Oper vergewaltigt er Eritea (Siobhan Stagg), die Verlobte des Prätorianerhauptmanns Giuliano. Trotz eines halbherzigen Eheversprechens an die Geschändete stellt Eliogabalo die ganze Zeit Gemmira (Anna El-Khashem), der Verlobten seines Vetters Alessandro, nach. Sein Ansinnen, auch diese zu vergewaltigen, scheitert jedoch dadurch, dass er (hinter der Bühne) von Soldaten ermordet wird.

Sophie Junker (Atilia Macrina), Anna El-Khashem (Flavia Gemmira) und Siobhan Stagg (Anicia Eritea)
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Bieito zeigt die sexuellen Brutalitäten der Handlung einigermaßen realistisch, obwohl er sich im Vergleich mit anderen seiner Inszenierungen eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Doch der wirkliche Fokus des Regisseurs liegt woanders: Bei allen Figuren und Konstellationen arbeitet er die nicht binären Identitäten, das Bisexuelle und Queere heraus. Womit wir mitten im Zentrum der heutigen Gender-Diskussionen angelangt sind. Eliogabalo, von Yuriy Mynenko umwerfend dargestellt, singt in Sopranlage. Der Prätorianer Giuliano wird durch eine Frau dargestellt – Beth Taylor zeigt die Rolle in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Eliogabalos Rivale Alessandro ist ein Countertenor – der feingliedrige David Hansen wirkt als eine Art Hermaphrodit. Erheiternd komische Noten steuern die beiden Gehilfen Eliogabalos bei: Mark Milhofer in der Transvestitenrolle der Amme Lenia und Joel Williams als schwuler Diener Zotico.

Eliogabalo
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In der Akzentuierung auf diese trendige Geschlechter-Fluidität ist Bieito teilweise einem Missverständnis der barocken Stimmfachproblematik auf den Leim gekrochen: Zu jener Zeit wurden beispielsweise Männerrollen häufig für hohe Stimmlagen komponiert, die dann von Kastraten gesungen wurden. Eine solche Kastratenrolle ist beispielsweise der Nerone in L’incoronazione di Poppea von Cavallis Lehrer Claudio Monteverdi. Solche Besetzungen fußten indes auf den Konventionen der Opernpraxis und bezweckten nicht die Problematisierung der Geschlechterrollen.        

Musikalisch bewegt sich der Zürcher Eliogabalo auf höchstem Niveau. Sinkovsky und sein Produktionsteam haben die ursprünglich vierstündige Oper etwa um eine Stunde gekürzt. Das Libretto mit den vielen, heute nicht mehr verständlichen Bildern wurde modernisiert. Und vor allem musste die Partitur, die im Original nur die Singstimmen und den Generalbass enthält, für den praktischen Gebrauch aufbereitet werden. Sinkovsky hat da eine sehr farbige Instrumentierung hingezaubert. Unter den Melodieinstrumenten sind unter anderem auch Zinken, Dulzian, Flöten oder Barockposaunen zu hören. Und der Continuo-Part bietet mit Cello, Gambe, Harfe, Erzlaute, Theorben, Cembalo und Orgel ein sehr reiches Ausdrucksspektrum. Nicht zuletzt unterstreicht die Instrumentierung die unterschiedlichen Charaktere der Vokalsolisten.

Yuriy Mynenko (Eliogabalo)
© Monika Rittershaus

Das an der Zürcher Oper ansässige Originalklangensemble La Scintilla wurde seinem Ruf einmal mehr gerecht und spielte mit Lust und Hingabe. Sinkovsky ließ das Klangband der Musik wunderbar fließen, so dass man als Hörer kaum merkt, wo die rezitativischen Teile in die ariosen übergehen und umgekehrt. Gelegentlich griff der temperamentvolle russische Maestro, der ursprünglich Violine und Gesang studiert hatte, auch selber zur Geige. Und zu Beginn des dritten Akts verblüffte er das Publikum gar mit einer Einlage als Countertenor.

Yuriy Mynenko (Eliogabalo)
© Monika Rittershaus

Cavallis Kompositionsstil, bei dem die spätere starre Trennung in Rezitative und Arien noch nicht vollzogen ist, mochte seinen Zeitgenossen als veraltet vorgekommen sein – ein Grund möglicherweise, weshalb die Aufführung von Eliogabalo 1668 gecancelt worden war. Aus heutiger Sicht macht genau dieses formal-stilistische Element den ästhetischen Reiz dieser Musik aus. In der geglückten Verbindung von formalen Freiheiten, dramatischer Spannung und trefflicher Figurencharakterisierung, die auch das Parodistische zulässt, verdient es Eliogabalo aus musikalischer Sicht auf jeden Fall, ins Repertoire der bedeutenden Barockopern aufgenommen zu werden. 

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