Als ich Sir John Eliot Gardiner und das Koninklijk Concertgebouworkest das erste Mal live hörte, führte der Dirigent den Klangkörper zu dessen 125-jährigem Bestehen auf eine breiter angelegte Europareise. Dieses Jahr erweist das Orchester dem Briten die Ehre, es anlässlich seines eigenen Geburtstags – es ist der 80., am 20. April ist es dann soweit, doch enger gefeiert wird natürlich mit seinen Monteverdis und Bachs h-Moll-Messe – über Monate verteilt rund um Brahms' 125. Todestag 2022 auf großer Konzerttour durch zahlreiche kontinentale Insitutionen zu leiten. Damals wie heute auf dem Halteplan stand die Philharmonie Essen, in der nun der eigentliche Abschluss des KCO-Brahms-Zyklus' – zu Gardiner-Feierlichkeiten im Mai nochmals eine symphonische Integrale im Concertgebouw Amsterdam, in der Elbphilharmmonie und in Luxemburg – zu erleben war, den Gardiner 2019 inoffiziell in Amsterdam mit der Dritten Symphonie begonnen hatte, der letztes Jahr zum offiziellen Start Nr. 1 und 2 sowie die Wiederholung der von ihm meistgeliebten Nr. 3, das Erste Klavierkonzert und Chorlieder folgten.
Somit eröffnete vor der eben noch fehlenden Vierten das ausstehende Zweite Klavierkonzert den Abend, für den sich in Kontinuität zum Ersten Sir Stephen Hough an die Tasten setzte. Und an diesen tauchte er in einen unnachgiebig kontrollierten Wahnsinn, der sich abseits des Lyrischeren durch expressive, von harten, dynamisch-nervenaufreibenden Akzenten begleitete Themenstatements auszeichnete, die somit zurecht gar nichts von einem nur verspottet brav-biederen Brahms hatten. Sie waren im Kopfsatz auch nötig, um die Balance zu dem mit vierzehn ersten Geigen voll besetzten, imposant-warmen KCO zu wahren, das sich glücklicherweise ebenso durch Gardiner- und Brahms-genehme Wiener Antiphonaufstellung, härtere Paukenschlägel und vibratolose Artikulation der leisen Passagen hervortat. Zudem gelangen Gardiner – trotz minimalster rhythmisch-synchroner Aufnahmeoberflächlichkeiten der Musiker – fein-klare, weich phrasierte Übergänge und wechselvolle Einsatzbelichtungen von Horn, Flöte und Oboe.
So sehr die benannten, von Brahms ja geschätzten, vibratolosen Stellen das Klangbild verschönerten, so mehr durften die Streicherfinger doch in den blut- und glutreichen Entladungen wackeln, ohne allerdings – mit Ausnahme von eher ungewöhnlich individualisierbar herausgehörten Akkordenden in ansonsten orchestraler Homogenität – besonders stark zulasten der ansonsten eingeforderten und essentiellen Transparenz zu gehen. Wie eine spannende filmmusikalische Jagd mutete mit Gardiners scherzendierender Tempo- und Dynamikintensität das Allegro appassionato an, in dem Hough seine Phrasierungsvariationen – sprich die umhauende Volte von brachialerem zu sanftestem Anschlag – mit gestochener Weisheit sowie technischer und atomuhrpräziser Filigranität inmitten umherwirbelnder Läufe einpflegte. Weiters beeindruckten seine dagegen unaufgeregte melodiöse Feierlichkeit oder im folgenden langsamen Satz die wühlende Wegsuche in auskostender Ruheoase, die KCO-Solocellist Gregor Horsch wunderbar melancholisch und traumschön bereitete. Von dort glich das kräftige, flinke Allegretto grazioso wie ein tänzerischer Drahtseilakt von Wiener Jahrmarkt zu Jahrmarkt, auf dem halbmorbider und gelöster Charme Arm in Arm gingen; auf jeden Fall mit derart sich organisch blitzschnell ändernden Stimmungen, dass Aktivität, Reiz, Geschick und Sonderbarkeit solcher Extreme ein zutiefst erinnerungswürdiges Foto dieser musikalischen Paarung und Begegnung schossen.
In der Symphonie Nr. 4 ging das Concertgebouworchester neben der Beibehaltung oder gar Verstärkung der Vibratoaspekte noch williger auf Gardiners anderweitig inwendig beherrschte und stärker für unerlässlich erachtete Phrasierungsmuster der Tonschweller und Überleitungen ein und versah die aufgetürmten Gefühlssequenzen im ersten Satz – oder sollte ich bei den ansprechend sowie lebendig durchdachten, kontrastierenden Effekten von Sequenzierungen schreiben? – mit satterer Dramatik als ohnehin schon. Auch mit den Farbverläufen des Andante moderato wussten das KCO und Gardiner für sich und Brahms einzunehmen, doch war es vor allem das rasende Allegro giocoso, das mit Blech, Streichern, harten Pauken und Triangel so packend elektrisierte, als sei die Steigerungsfähigkeit an ihr Ende gelangt. Sie und Gardiners Brahms-Zyklus fand es allerdings in der scharfen Fiebrigkeit des Allegro energico e passionato, das Batterien, Geist und Brahmsbilder für Künftiges erneut voll auflud.