Bevor Philippe Herreweghe ab Dezember die Mendelssohn-Reihe des Kammerorchesters Basel verantworten und zum Jahresabschluss seine verschobene Missa solemnis-Tour mit dem Orchestre des Champs-Élysées – jetzt zum 75. Geburtstag auch passend – nachholen wird, widmet er sich verlässlich weiter mit seinem Pariser Ensemble den generationsnachkömmlichen Romantik-Kollegen Johannes Brahms und Antonin Dvořák. Sofern violinsolistisch programmiert, wenn möglich, immer gemeinsam mit Isabelle Faust. So auf jetziger Herbsttournee, natürlich ebenfalls mit der Station in der Philharmonie Essen, wo mir letztes Konzert dieser drei interpretatorischen Protagonisten noch in präsenter Erinnerung ist. Schließlich hinterließen sie erwartungserfüllend leuchtenden Eindruck durch das in aller Bescheidenheit hervortretende markenkernliche Zusammenkommen von klangperspektivischer Strahlung, Farbigkeit und Durchsicht im Tonbild dieser darmbesaiteten, naturhorntriumphierenden, vibratobedachteren und auch in Größe, Stimmtonhöhe und Wiener Antiphonaufstellung epochengetreu historisch besetzten Verbindung.
Eröffnet wurde der ganz klassisch aufgebaute Progammauftritt mit Brahms' Tragischer Ouvertüre, die sich durch das mit eben benannten Merkmalen substantiiert attributierte, ja durch abwechselnd aufgekratztes und lyrisch-abgerundetes, mineralistisches Spiel mit dem Naturhaften bei dem im gestandenen, gefassten „Weinen“ (mit dessen Wortwahl Brahms – man kennt's – später so seine Probleme hatte) zum Vorschein kommenden heldenhaft Schönen auszeichnete. Nach absoluter Ballastvermeidung verlangt Schwarz auf Weiß gerade Dvořáks Violinkonzert, das durch Brahms' Vermittlung an Verleger Fritz Simrock und den vorgesehenen, doch abgesprungenen Uraufführungsgeiger Joseph Joachim etwas Unglück im entstehungs- und veröffentlichungsprozesslichen Verlauf anhaftete. Bringen Tonart, Leersaiten und eigentlich fast durchgängiges Begleitpianissimo vermeintlich genügend Klarheit, bedarf es einer besonderen Verinnerlichung Joachims Kritik, dass „die überaus dicke orchestrale Begleitung, gegen welche auch der größte Ton nicht aufkommen würde“ trotz dynamischer Vorgaben ein erhebliches Ärgernis sei.
Fast müßig zu erwähnen, dass gerade Herreweghe und die Champs-Élyséeser darauf ebenfalls Rücksicht nahmen, ohne in Harm- oder temporäre Bedeutungslosigkeit zu versinken. Vielmehr trat das Orchester mit gerechter Stimmigkeit der „Hey-was-geht?”-Aufmerker der Bläser oder der bassigen Imitationsspäße in kollegial-produktive Klausur mit Fausts sommerlich-unbeschwerter oder kehrseitig-schwelgerischer Geige, deren verklanglichtes natursaitliches, bogengewichtlich dynamisches, stilistisches, empfindsames und phrasiertes Verständnis den Nerv des Verzaubertseins traf. Erst recht dazu – und darüber von mir als besonders wichtig geschätzt – versehen, neben allen reinlichen, gedruckten Doppelgriffen, Flageoletts und sul-Stellen, mit dem erforderlichen Doppeldreiklang aus vibratolosen, vibratovollen und daraus gemittelten Tönen, Akzenten und Betonungen, die Regung und wirkliche Gesanglichkeit demonstrieren. Vor allem der dritte Satz war – nach einem nicht zu langsamen Mittelteil – eine heitere Bewegungstherapie mit den unverkennbaren Melodieverknüpfungen zu den in dergleichen Zeit entstandenen Slawischen Tänzen, die Fausts scharf-schürfend angestrichene Violinsaiten schnarren ließ, die köstlichen Hörner packte und in solistischer Bestimmtheit das Orchester accelerierend so mitzog wie die Zuhörer, die dem Publikumsliebling stehenden Applaus zollten.
Zu dem durch Natürlichkeit entstehenden heroisch-kräftigenden Gefühl des Anfangs ging es zurück mit Brahms' Symphonie Nr. 2, die der Komponist vor der Tragischen Ouvertüre im bewussten Anflug von Ironie erst mit dem Siegel des „Melancholischsten, Traurigsten, Molligsten, das er bisher geschrieben habe“ versehen hatte. Zwar merkt man diese Melancholie doch auch unironisch im zweiten Satz, aber keineswegs zwanghaft und monströs, sondern formell schönheitszierend – so gespielt vom Orchester, dass es dem Charakter eines Glaubens gleichkam. Aufgehende, aber auch streng abgesetzte Winde strömten zuvor umher, ganz nach Brahms' geforderter Organität im Gleichen und Kontrastierenden, mit „Nuancen“ und ohne Pathos im Dramatischen sowie ohne zerlaufender oder breiter Soßigkeit im Melodiösen. Lieferte das Allegretto grazioso einen rhythmisch verspielten, akzentvoll frohlockenden Vorgeschmack auf das Allegro con spirito, verhaspelten sich völlig ungewohnt Dirigent, Pauken und Streicher ausgerechnet kurz vor schneller angegangener Finalcoda im schon recht flüssigen Ausgangstempo; eines, das dem Satz die Struktur gab, das freudig Ausbrüchliche und Zelebrierende zu verleihen, sowie ansonsten insgesamt in durchgängiger Klarheit von Orchestre des Champs-Élysées und Herreweghe offeriert wurde, die aufs Neue alle Ansprüche bestätigte.