„Musik hat, so merkwürdig das klingt, mit Klang nur wenig zu tun. In den letzten Jahren haben wir die Tonkunst immer wieder in Richtung einer obsessiven Klangkunst gedrängt. Aber ich suche keinen schönen Klang. Ich suche einen adäquaten Klang. Ich spiele ja gar nicht die Noten. Ich spiele den Grund, warum ein Komponist die Noten geschrieben hat …“ So wird Krystian Zimerman in der Programmankündigung bei seinem Konzert in der Berliner Philharmonie zitiert.
Generell stellt er so hohe Ansprüche an sich, dass er nur wenige Stücke seines Repertoires auch öffentlich vorträgt oder auf Tonträger einspielt. Und selbst manche seiner veröffentlichten Aufnahmen zog er später wieder zurück. So auch die der Werke des frühen Brahms, die er bereits mit Mitte 20 aufgenommen hatte. Diese hohe Selbstkritik teilt er übrigens mit Brahms, der seine ihm mißlungen erschienenen Werke später vernichtete, um sie und insbesondere sich selbst vor der neugierigen Nachwelt zu schützen.
Seine Dritte Klaviersonate f-Moll ließ er überleben. Und sie war unter Zimermans Händen eindrucksvoll zu hören. Eindrucksvoll war nicht allein das enthusiastische Tastengewitter, das sich der junge Brahms noch recht unverhohlen in diesem Frühwerk gestattete und das Zimerman auch nicht zähmte, sondern frei ausspielte. Groß war die Aufführung aber, weil Zimerman die organischen Zusammenhänge zu gestalten und so Brahms kongenial aufzuführen verstand: Ganz im Sinne des Komponisten fasste Zimerman den Lamento-Bass, über den Brahms das Hauptthema komponierte, als das allem übergeordnete Thema des ganzes Satzes auf, indem er im Seitenthema so sorgfältig wie unaufdringlich die chromatische Tonleiter in die Mittelstimme wandern und so auch in ihm als Strukturträger hervortreten ließ.
Das As-Dur-Notturno des zweiten Satzes gelang Zimerman als musikalische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit. Den Satz begann er als tönendes Naturbild, wechselte dann in einen feinen Zwiegesang, bis er schließlich in der Vereinigung der Stimmen das „umschlungen“ des Mottos musikalisch zum Ausdruck brachte. Im vierten Satz legte Brahms diesem zweiten Satz einen Trauerflor um. Zimerman inszenierte diese „Trauer über verlorne Freuden, über das entflohene Glück der Jugend, der Liebe“ gnadenlos. Das konnte er so in den 1980er Jahren wohl wirklich nicht so eindringlich spielen. Vielleicht lässt sich so etwas aber auch gar nicht für die Ewigkeit auf CD festhalten.
Im Finale gestattete Zimerman der Ausgelassenheit ihren Raum. Spielerischen Charakter wies seine Darbietung des Finales insofern auf, als der Pianist der Darbietung der kontrapunktischen Behandlung des Klaviersatzes jede Spur eines Mühewaltens genommen hatte.
Nach der Pause spielte Zimerman die vier Scherzi Chopins, die er aber nicht als ein mehrsätziges Werk nahm wie manche seiner Kollegen, sondern jeweils zwischen den Stücken Beifallspausen zuließ. Diese vier Scherzi sind zwar Einzelwerke, aber ihnen ist doch als Zusammenhang ein „Durch-Nacht-zum-Licht“ eingeschrieben. Es schien so, als arbeitete Zimerman auf dieses Licht am Ende hin. Das erste Scherzo interpretierte der Pianist als das finsterste der vier Scherzi. Eckige, zickzackartige Motiv-Moleküle stürzten aufeinander los und Zimerman gönnte dem Tumult erst eine Pause, als Chopin mit der Melodie des Weihnachtsliedes Lulajze Jezuniu (Schlaf, kleiner Jesus, schlaf) Licht in dieses Dunkel fallen ließ. Genau wie vom Komponisten gewünscht, stach Zimerman in den monotonen Wiegenliedrhythmus reizvoll die letzte Viertelnote heraus. Am Schluss ließ er die Akkorde wie Blitze in die Musik einbrechen.
Das zweite Scherzo ist das berühmteste. Zimerman entlockte dem Publikum bei seiner Darbietung die größten Beifallsstürme – und dass, obwohl er sich hier die größten Freiheiten gestattete. Mehr noch als in den anderen Scherzi zerklüften lange Pausen im b-Moll-Scherzo die Syntax des Hauptthemas. Doch Zimerman überspielte diese Pausen zu häufig und überging auch recht freizügig Chopins dynamische Vorschriften. Beeindruckend war sein Spiel trotzdem, weil er das Gehetzte des Hauptteils doch traf und die sotto-voce-Triolen auch grabesähnlich spielte, wie Chopin es haben wollte. Heitere Anmut war in den Themen des Trios hörbar, eine Versöhnung mit dem Hauptteil aber unmöglich, weil die Ausgangstonart am Ende nicht wieder erreicht wurde. Zimerman glich auch nichts aus.
Das dritte Scherzo trägt den Titel „Mit dem Engelschoral“, der sich auf die viertaktige, Note gegen Note gesetzte, an einen Choral erinnernde Akkordfolge bezieht, in die filigrane, leggiero zu spielende Achtel-Kaskaden hineinfallen. Dieser wurde dabei stets abgewandelt, mehrfach wiederholt, woran sich wohl niemand im Saal satt hören konnte und wollte. Die Musik wurde lichter und ganz hell im vierten Scherzo, das Chopin als einziges in Dur komponierte.
Fast wie Sokolov hängte Zimerman mit den fünf Zugaben einen dritten Konzertteil an. Zunächst erklangen die ersten beiden der vier Balladen Pp. 10 von Brahms. Dann spielte er mit verblüffender Leichtigkeit drei Chopinsche Mazurken aus Op. 24: Nr. 4, 1 und 2.